Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
Gesicht, das trotz der Spuren, die ihr weltliches Streben auf ihm hinterlassen hat, noch eine zarte Heiterkeit besitzt, berührt ihn mehr, als es sollte – als sei sie eine lange verloren gewesene Schwester, die er immer gemocht hat.
Und so sitzen sie nun wie alte Freunde am Feuer und trinken den gewürzten Wein. Weder der Name Kirsten noch die peinlichen Silben des Wortes »Scheidung« kommen ihnen über die Lippen. Sie sprechen über Geld und das Opfern Islands, über die Ingenieure aus Rußland, die ihre lange Reise ins Numedal sicher bald beendet haben werden, über den dortigen Pfarrer und seine Briefe, in denen er der fehlenden Hoffnung im Tal des Isfoss nachtrauert.
Und so wendet sich das Gespräch der Zukunft zu und wie man diese sehen muß, wenn sie – die einst unendlich erschien – nun wahrscheinlich nur noch von kurzer Dauer sein wird. Ellen sagt zu König Christian, sie werde »bis zum letzten Seufzer, bis zum allerletzten Blick auf irgend etwas Schönes« darum kämpfen, am Leben zu bleiben und an dem festzuhalten, was sie besitzt. Die Leidenschaftlichkeit, mit der sie das vorbringt, amüsiert ihn, weil er nichts anderes von ihr erwartet hätte. Er erzählt ihr, daß seine eigene Zukunft, wenn Tycho Brahes Prophezeiung eintrifft, »an einem dünnen Faden hängt« und das offene Grab schon für ihn bereitsteht.
Christian ist dazu übergegangen, das Wasser vom Brunnen von Tisvilde zu trinken, weil er hofft, damit die Schmerzen in seinem Magen und seinen Eingeweiden zum Abklingen zu bringen. Auf Wagen werden große Fässer davon zum Palast gebracht und dort hinter Schloß und Riegel gehalten, damit nicht gepanscht und das Heilwasser nicht durch gewöhnliches ersetzt wird.
Der König versucht sich vorzustellen, wie der »Tisvilder Nektar« langsam durch seinen Körper rinnt und die Ursachen seiner Qual herausschwemmt. Als er einige Tage lang nicht von plötzlichen Übelkeiten heimgesucht worden ist, erklärt er, dieses Wasser werde ihn gesund machen. »Vielleicht«, fügt er hinzu, »hat Tycho Brahe den Aufruhr in meinem Darm vorausgesehen und wußte, daß dies zum Tod führen könnte. Doch mit der Tisvilder Magie werde ich ihn nun bezwingen.«
Fünfmal am Tag wird ihm ein Becher davon gebracht, der letzte vor dem Schlafengehen. Er genießt die Reinheit des Wassers auf der Zunge und verkündet, er werde keinen Wein und kein starkes Ale mehr trinken, sondern nur noch dieses Brunnenwasser, bis seine Verdauung wieder in Ordnung ist. Und in diesem fanatischen Einhalten einer Routine, die nichts Vergnügliches enthält, erkennt er eine Wahrheit über sich selbst: Er will nicht sterben. Seine Aufgabe als König von Dänemark ist noch nicht erfüllt; er will seinen Posten nicht verlassen.
Als er es sich eines Abends gerade im Bett gemütlich macht und darauf wartet, daß ihm sein Wasser gebracht wird, kommt eine junge Frau in sein Schlafgemach.
Sie ist mollig, hat eine rosige Haut und Grübchen in den Wangen. An den Grübchen merkt er, daß er sie irgendwoher kennt, kann sich aber nicht an ihren Namen erinnern.
Sie macht vor ihm einen Knicks und stellt ihm mit ihrem Grübchenlächeln seinen Becher Wasser hin. Dabei kommt sie König Christian so nah, daß er ihren Duft einfangen kann, der ihn an Damaszenerpflaumen erinnert und ihn einstmals, als er nicht in Kirstens Bett gelassen wurde, daran denken ließ, diesem schlichten Mädchen einen Besuch abzustatten und es in die Arme zu nehmen.
Und dann fällt es ihm wieder ein: Sie war eine von Kirstens Frauen. Man nannte sie »Frau für den Körper«.
Sie will gerade gehen, als sie der König zurückruft. Er sagt, er könne sich seit neuestem nur noch an die Hälfte dessen erinnern, woran er sich erinnern sollte, und ihr Name gehöre zu dem Verlorenen.
»Frøken Kruse«, sagt sie. »Vibeke.«
Daß Leute aus dem Leben verschwinden und dann eines Tages neu entdeckt werden, entweder sie selbst oder andere, die ihnen sehr ähnlich sind und ihre Geister oder geistiger Ersatz sind, ist etwas, dessen sich König Christian immer bewußt war. Und weil ihm dieses Ersetzen oder Wiedererscheinen immer wie ein Wunder erschien, mißt er ihm große Bedeutung bei. Er neigt dazu, zu glauben, daß diese Menschen von Gott geschickt sind und im Hinblick auf ihn eine besondere Aufgabe erfüllen sollen.
Dieses Gefühl hat er nun, als er Vibeke Kruse in seinem Zimmer stehen sieht, ihren Pflaumenduft einatmet und sich an ihre dicken Brüste erinnert, von denen er
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