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Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Titel: Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Tremain
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seltsamerweise einmal dachte, sie seien so weich wie Federn, daß es so sein würde, als halte er zwei weiße Tauben in den Händen und höre deren Herzen schlagen.
    Er bittet Vibeke, an seinem Bett Platz zu nehmen. Er fragt sie, woher sie komme, und erwartet eine phantastische Antwort wie »Von einer Espe« oder »Aus dem Schnee des Montblanc« oder »Vom Himmel«. Doch sie antwortet schlicht, daß sie jetzt für Ellen Marsvin arbeite und diese begleitet habe, »damit wir Seiner Majestät hier, auf unserem Weg nach Kopenhagen, unsere Aufwartung machen können«.
    Seltsamerweise kommt es dem König nicht in den Sinn, daß Vibeke, wenn sie für Ellen arbeitet, im Boller-Haushalt sein muß, wo sich Kirsten noch immer aufhält. Ja, er denkt überhaupt nicht an Kirsten, sondern ist völlig von Vibekes Anwesenheit eingenommen, so sehr, daß er vergißt, das Wasser zu trinken, vergißt, daß es schon spät ist, alles vergißt, außer dem Wunsch, sie bei sich zu behalten.
    Er blickt auf ihre vollen Lippen, ihr gemütliches Kinn, ihre breiten Hüften, ihr alltägliches braunes Haar und ihre Hände, die aussehen wie die einer Bäuerin, und sagt plötzlich: »Ich bin der Heuchelei überdrüssig.«

SEILTÄNZER
    Eines schönen Morgens hört Peter Claire das Geräusch schwerer Räder auf dem Kopfsteinpflaster im Hof und noch andere ungewohnte Laute, wie das Spielen auf einer kleinen Schalmei und das Bimmeln eines Tamburins. Er blickt aus dem Fenster und sieht unten Männer auf Pferden sowie zwischen den Planwagen herumlaufende Frauen und Kinder. Die Palastbewohner kommen heraus, begrüßen sie wie alte Freunde und drücken ihnen Essen und Krüge mit Ale in die Hand. Und dann wird der Ruf laut und wie ein Echo über den Hof und in den Palast getragen, wo er entlang der Korridore widerhallt und von Kammer zu Kammer dringt: »Die Seiltänzer sind da!«
    Sie sind sofort von einer Menschenmenge umgeben – als habe man seit Monaten auf diesen Augenblick gewartet, als habe an diesem Märzmorgen niemand auf Frederiksborg etwas anderes zu tun, als im Kreis herumzustehen, auf die Neuankömmlinge zu blicken und auf das Wunderbare zu warten, das sie zum besten geben werden.
    Und schon findet etwas Magisches statt. Die Kinder haben im Kreis mit Turnen, Bodenakrobatik und Bockspringen begonnen, schnell und mühelos, mit sich biegenden und wieder streckenden Gliedern, als seien es junge Weidenäste. Während sie herumspringen und -wirbeln, werden Holzpfosten und -latten, Seilrollen, Körbe mit Messingscharnieren und Haken ausgeladen, und ein riesiger Apparat erhebt sich wie der Doppelmast eines Schiffes im großen Hof zwischen der Kapelle und dem Prinzenflügel.
    Der König selbst taucht auf und sieht sich alles an. An seiner Seite ist Vibeke Kruse, deren Hand er fest umschlossen hält. Auf ihrem Gesicht liegt ein breites Lächeln, das ihre neuen, in der Sonne glänzenden Elfenbeinzähne sehen läßt. Nicht weit von Vibeke entfernt beobachtet Ellen Marsvin dies alles schweigend und nickt zufrieden.
    Als wieder ein Wagen in den Hof fährt, aus dem ein schwarzer Bär klettert, der an einer Kette herumgeführt wird, geht Peter Claire hinunter, um sich den Zuschauern zuzugesellen. Nun strömen viele Händler zu den Palasttoren herein, die den Schaustellern mit ihren Körben voller Kuchen und Käse, Bottichen mit Austern und Wellhornschnecken, ihrem Metallschmuck und ihren Bauchläden mit Schnürsenkeln und Messern den ganzen Weg von Kopenhagen gefolgt sind. »Nun kann man alle«, sagt Krenze dicht neben Peter Claire, »nach Ramsch wühlen und zum Frühstück Austern essen sehen! Ich frage Euch, wie soll man die Menschheit ertragen?«
    Da Peter Claire nicht antwortet, fährt Krenze fort: »Ich würde gern erleben, daß der Bär den kleinen Mann an der Kette herumführt. Das wäre eine Vorstellung, die ich mir nicht entgehen lassen würde.«
    Peter Claire wendet sich dem deutschen Violaspieler zu. Er hat schon einen Tadel wegen Krenzes ständigem Zynismus auf den Lippen, äußert ihn dann aber nicht, weil er erkennt, daß ihm der Blick auf die Szene auch keine Freude bereitet, ihn die radschlagenden Kinder und der Bär mit den traurigen Augen gleichgültig lassen und ihm selbst der große Apparat, der mittels Seilen und Rollen hochgezogen wird, Unbehagen bereitet.
    Daher sagt er ruhig: »Sobald die Tänzer auf dem Seil balancieren, wünschen sich die Leute nichts sehnlicher, als daß sie herunterfallen.«
    Krenze sieht ihn zustimmend, aber auch ein

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