Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
wenig überrascht an. »Ihr lernt!« erwidert er. »Jedenfalls scheint Ihr endlich mehr zu begreifen, als es Engeln zusteht.«
Peter Claire schweigt. Doch da er sich nun mal inmitten dieser merkwürdigen, lärmenden Szene mit Krenze unterhält, möchte er diesem ernsten, unnachgiebigen Mann noch etwas anderes sagen, was ihn in Abständen immer wieder befällt und ihm allmählich angst macht. »Krenze …«, setzt er an, doch der Deutsche, der so dünn und agil wie ein Aal ist, ist nicht mehr an seiner Seite. Peter Claire hält nach ihm Ausschau, sieht ihn aber nicht. Er ist von der Menge der Händler und Zuschauer verschluckt worden.
Peter Claires Blick fällt auf den König, der Vibekes Hand hält. Er erkennt in ihr eine von Kirstens Frauen und überlegt einen Augenblick, ob er ihr wohl – wenn sie nach Boller zurückkehrt – einen Brief für Emilia mitgeben könnte. Doch dann erscheint ihm der Gedanke doch nicht so gut, und er verwirft ihn wieder. Denn was konnte er Emilia jetzt sagen? Daß sein Glaube an sie schon immer schwach war? Daß er sich, weil er sich ihrer Liebe nicht sicher fühlte, ohne Protest ins Bett seiner früheren Geliebten locken ließ?
Er läuft nun in der Menge herum, vielleicht auf der Suche nach Krenze, vielleicht auch einfach auf der Suche nach irgend etwas , was seinen trübsinnigen Eindruck von der Szene ändern könnte. Er merkt, daß es in der Sonne fast schon warm ist. Ein Mädchen in Rot hält ihm einen Teller mit Leckereien hin, doch er geht weiter. Ihm fallen die weißen Bänder ein, die Charlotte bekommen sollte und die er dann am Vogelhaus in Emilias Haar geflochten sah.
Nun kommt ein neuer Klang auf: Zwei Knaben in ausgefransten und zerlumpten Uniformen beginnen auf kleinen Trommeln, die sie um den Hals hängen haben, mit einem eintönigen »Rättetät, Rättetät«, um den Leuten kundzutun, daß die Maste aufgezogen sind, das Seil zwischen ihnen gespannt ist und nun der Zeitpunkt naht, an dem der erste Tänzer in den leeren Raum hinaustreten wird.
Alle starren nach oben.
Die Silhouetten der Tänzer heben sich vom grünen Kupfer der steilen Dächer ab. Ihre in weichen Schuhen steckenden Füße sind nicht wie die anderer Menschen, sondern mehr Hände in Handschuhen, die sich festhalten und anklammern können. Sie sind so wendig auf dem Seil, daß man dieses fast vergißt und die Zuschauer den Eindruck haben, daß die Tänzer ihre Pirouetten in der Luft drehen.
Doch Peter Claire kann nur daran denken, daß sie sich ständig im Augenblick vor dem Absturz befinden. Und dieser geht nie vorbei, sondern wird immer wieder aufs neue wiederholt.
Unterhalb der Seiltänzer ist nichts, was ihren Fall dämpfen könnte: kein Netz, keine ausgelegten Matratzen, nicht einmal ein Haufen Stroh. Jetzt schlagen die kleinen Trommler einen schnellen Wirbel. Die Schalmeien schweigen. Die Tänzer springen sich gegenseitig auf die Schultern, und der Wind, der die Wetterhähne dreht, zerzaust ihnen das Haar.
Diese Tapferkeit verändert Peter Claires Stimmung ein wenig. Es ist, als mache der Wagemut der Seiltänzer seine eigene Trägheit zunichte, weil er ihn daran erinnert, zu welch unerwartetem Tun der Mensch fähig ist, wenn er sich nur traut. Der Anblick der Artisten gibt ihm Auftrieb, und er denkt nun wieder darüber nach, welche Hoffnung auf ein Glück mit Emilia – wenn es denn überhaupt eine gibt – ihm noch bleibt.
Er sagt sich gerade, daß es vielleicht einzig und allein von seinem eigenen Mut abhängt, als das, was er Krenze gegenüber erwähnen wollte, wieder eintritt: Die Welt wird fast still. Die Trommeln rasseln noch, die Menschen japsen und jubeln noch, der Wind seufzt noch um die steilen Dächer, doch all dies nimmt Peter Claire kaum mehr wahr. Es ist verschwunden, vielleicht zum Himmel emporgestiegen, und von einem Geräusch innerhalb seines linken Ohrs ersetzt worden, einem Geräusch wie beim Zerreißen von Lappen, und mit diesem inneren Lärm geht ein heftiger gemeiner Schmerz einher.
Der Lautenspieler hält sich den Kopf. Der Schmerz und das Geräusch des Zerreißens werden so stark, daß er am liebsten schreien würde – jemanden anflehen möchte, ihm zu helfen, dem ein Ende zu setzen. Doch es hört nicht auf. Es hält noch an, als die Seiltänzer heruntergeklettert kommen, ihre Verbeugungen machen und die Leute zu klatschen beginnen. Wild blickt er um sich. Er hält sich das Ohr mit der Hand zu (es ist das Ohr, in dem er einst den Schmuck der Gräfin trug) und muß an
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