Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
die Stille denken, in die Johnnie O’Fingal fiel. Er wird herumgeschubst, als die Menschen nach vorn drängen, um die Tänzer hochzuheben und auf den Schultern über den Hof zu tragen. Niemand schenkt ihm Beachtung. Der Bär wird fortgeführt.
Dann hört das Geräusch des Zerreißens auf, und auch der Schmerz läßt nach. Wie eine gesprungene Feder, die aus dem Boden schnellt, strömen die Geräusche des Hofs wieder auf den Lautenspieler ein. Sie überschwemmen seinen Kopf: die Vogeltöne der Pfeife und die Glockentöne des Tamburins, die Bravos der Menge, das Lachen der Tänzer und die vierfachen, monotonen Ausrufe der Straßenhändler: »Käse! Austern! Süßigkeiten! Messer!«
Plötzlich ist Krenze wieder neben ihm. Der Deutsche macht keine Bemerkung darüber, daß sich Peter Claire den Kopf hält. »Sie waren nicht schlecht!« sagt Krenze, während die Leute mit den Schaustellern mehrmals um die Maste ziehen. »Nicht schlecht! Sie wußten, was sie sich zutrauen konnten.«
VIBEKES ERFINDUNG
Während sich Vibeke Kruse an ihrem ersten Abend auf Frederiksborg langsam von der Reise erholte, packte sie sorgfältig ihre Garderobe mit den üppigen Kleidern aus und dachte bei sich, als sie die Falten glattstrich: Das Geheimnis eines erfolgreichen Lebens beruht darin, nicht vor seinem Tod zu sterben.
Sie gestand sich ein, daß sie in dem langen Widerstreit zwischen ihrer Liebe zu Süßigkeiten und ihrem Wunsch, schön zu sein, in ihrem Ringen mit der Kalligraphiefeder und dem bösartigen Silberdraht ihrer neuen Zähne sehr nahe daran gewesen war, der düsteren Einschätzung von sich selbst als einer Person ohne Wert zu erliegen, für die es nur eine einsame und trostlose Zukunft geben und die ebensogut jung sterben konnte. Doch sie hatte es geschafft weiterzukämpfen, und nun war sie endlich hier auf Frederiksborg, wo Ellen Marsvin schon mit dem König tratschte und das Fundament des Plans legte.
Vibeke wußte, daß dieser Plan, nämlich Ellens Überzeugung, daß die frühere Frau für den Körper diejenige war, die Kirstens Stelle in der Zuneigung des Königs einnehmen würde, sonderbar war, aber das waren viele andere Ideen auch (so jene von damals, Stricken verderbe Frauenseelen, oder die, ein Huhn könne einem Menschen gegenüber ebenso ergeben sein wie ein Hund, und doch hatte Vibeke beides erlebt). So sprach nicht mehr für die Annahme, daß sich der Plan niemals verwirklichen lassen würde, wie für die, daß es doch möglich war.
In dieser optimistischen Stimmung hatte sich Vibeke schlafen gelegt. Sie lauschte auf die Psalmen des Glockenspiels und hörte am See jemanden singen. Sie ließ eine Kerze brennen, um zu wissen, wenn sie in der Nacht aufwachte, daß sie festen Boden unter den Füßen hatte und nicht mehr auf dem aufgewühlten Meer herumgeschleudert wurde.
Als Vibeke ein paar Tage später mit dem König zusammentraf, merkte sie sofort, daß er sich an sie erinnerte und sie mochte. Und sie begriff (vielleicht, weil es zufällig ihre erste Aufgabe war, ihm seinen Becher Tisvilder Heilwasser zu bringen), daß er ein Mann war, der sich nach Freundlichkeit sehnte. Er brauchte jemanden, der sich um ihn kümmerte. Sein Krieg mit Kirsten hatte ihm fast das Leben gekostet. Nun wollte er nur noch davor gerettet werden, vorzeitig zu sterben.
Und so versuchte Vibeke, König Christian zu trösten, statt ihn zu verführen (sie sah nämlich, daß dies wirklich nicht nötig war, weil er schon zu dem Schluß gekommen war, daß sie angenehm im Bett sein würde). Sie strebte nicht mehr danach, schön zu sein. Es kümmerte sie nicht, wenn sich ihr Bauch wölbte, ihr Kinn wackelte, wenn sie zuviel aß oder ihre Zähne manchmal beim Essen herausnehmen mußte, weil sie merkte, daß all dies früher einmal für ihn wichtig gewesen sein mochte, es aber nicht mehr war. Wichtig für ihn waren ihre Gesellschaft und ihre Zuneigung. Vibeke Kruse würde sich um den König von Dänemark und seine Bedürfnisse kümmern – auch die, zu lachen und einmal allein zu sein –, und vielleicht würde sie dann eines Tages, wenn es ihr gelang, seine Lebensfreude wiederzuerwecken, ihre große Belohnung erhalten.
Sie machte es sich rasch zur Gewohnheit, ein wachsames Auge auf König Christians Leiden zu haben. Ihr fiel zum Beispiel auf, daß er beim Treppensteigen kurzatmig war und es ihm dabei manchmal sogar schwindlig wurde. Sie fragte sich nun, warum ein König das ertragen sollte, wenn sich doch bestimmt ein Weg finden ließe, ihn
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