Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
roten Hand wegwischen zu lassen.
Und so klammert sie sich an ihn und merkt, wie die Eiseskälte ihren Körper verläßt. Trotzdem murmelt sie noch: »Armer Peter! Mein armer Peter …«
»Pst, Daisy. Alles wird wieder gut!«
»Oh, bete darum!« sagt sie. »Ich könnte es nämlich nicht ertragen und Mama auch nicht!«
»Dein lieber Papa auch nicht! Es ist aber nicht so. Es ist nichts passiert.«
Er hat nicht recht. Charlotte weiß, daß er nicht recht hat. Doch sie sagt nichts mehr. Sie läßt sich von George auf die salzigen Lippen küssen, und dann gehen sie zusammen in sein Arbeitszimmer, dessen Wände ganz gewiß nicht blau, sondern hübsch mit dunkelbraunem Leder gepolstert sind. Und es riecht nach Pfeifenrauch, Papier und Tinte. Es riecht nach Mann und all seinen vernünftigen, ruhigen und gemächlichen Geschäften.
Charlotte nimmt auf einem Eichenstuhl Platz. Ernst schaut sie zu, wie George einen weißen Federkiel zu spitzen beginnt. »Schreib du ihm, George«, sagt sie, »ich kann es nicht. Bitte ihn – als deinen künftigen Schwager – dringlich, nach Hause zu kommen. Schreib ihm, er müsse es um meinetwillen tun.«
DIE ERINNERUNG AN EINE PROPHEZEIUNG
König Christian versucht zu beten.
Er kniet in seinem Kirchenstuhl in der Kapelle von Frederiksborg, den er wie einen Schmuckkasten dekorieren ließ: mit einer Balustrade und einer Decke aus Ebenholz, mit Silber- und Elfenbeinornamenten und auf Kupferplatten aufgezogenen biblischen Gemälden an den Seitenwänden. Diesen Glanz hat er in seiner Zwiesprache mit Gott immer für hilfreich gehalten, weil sich sein Blick leichter in der Betrachtung schöner Dinge als schlichter, unbedeutender verliert und so sein Geist »ins Gebet entlassen« ist, wie er oft behauptet hat.
Aus diesem Grund – mehr noch als wegen seiner allgegenwärtigen Besorgnis, ein Sakrileg zu begehen – hat er seinen eigenen Kirchenstuhl geplündert, um ihn zu Dalern zu machen. Er hat die ganze Kirche nicht angerührt, weil er, wenn er den Kopf hebt und sich umschaut, die volle Pracht wiederentdecken will, die er sich einst vorgestellt hat, und sein Auge nach Lust und Laune darüberschweifen lassen möchte. Die Dinge außerhalb seines juwelengeschmückten Kirchenstuhls sind für seine Konzentration ebenso wichtig wie die innerhalb.
Christian bittet im Gebet um den Schutz Gottes, weil ihm in den letzten Tagen die Worte einer alten Prophezeiung, jener Tycho Brahes bei seiner Geburt, wieder eingefallen sind, die noch zu dem Unbehagen beitragen, das ihn anfallsweise immer wieder befällt.
Es war vorausgesagt worden, das Leben des Königs werde im Alter von dreiundfünfzig Jahren, also in dem Lebensjahr, das jetzt gerade begonnen hat, in Gefahr geraten. Es war vorausgesagt worden, er werde, wenn es zu Ende gehe, vielleicht nicht mehr am Leben sein, so daß sich die Leiden, die Dänemark schon während seiner Regentschaft ertragen mußte, noch um ein Tausendfaches vergrößern würden. Und nun fragt sich der König, ob Prophezeiungen, die auf Anzeichen beruhen, die man in den Sternen und Konstellationen des Himmels selbst erblickt, überhaupt durch menschliches Bestreben umgewandelt werden können. Aber nicht nur das: Kann denn Gott, der Schöpfer der Welt, das ändern, was im Universum in Silberschauern herumfliegt und vielleicht die Währung des Teufels ist?
Christian findet keine Antwort darauf. Er ruft sich ins Gedächtnis zurück, daß man gewisse Dinge – ganz gleich, wie sklavisch der Mensch auch versuchen mag, sie nach den kartesianischen Prinzipien zu analysieren, wie sehr er sich auch darum bemühen mag, sie zu zergliedern und neu zu ordnen – einfach nicht wissen kann.
Als der König dann von der Kapelle zu seinen Gemächern unterwegs ist, wird es dunkel, und er denkt über das vergebliche Bemühen der Märztage nach, eine neue Jahreszeit anzukünden, da die Nacht noch so rasch über den Nachmittag hereinzubrechen scheint.
Während König Christian langsam einen Becher Glühwein trinkt, wird ihm mitgeteilt, daß Ellen Marsvin, Kirstens Mutter, in Frederiksborg ist und um eine Audienz bittet. Er muß lächeln. »Sagt ihr«, erklärt er, »daß niemand für Kirsten vermitteln kann. Denn ich habe sie nicht nur von hier fortgeschickt, sondern es gelingt mir auch allmählich, sie aus meinem Herzen zu verbannen.«
Später ändert er jedoch seine Meinung und läßt Ellen holen. So ehrgeizig und stolz sie auch ist, hat er sie doch immer bewundert, und ihr einstmals schönes
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