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Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Titel: Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Tremain
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einmal sehen will.
    Erik Hansen ermuntert die ganze Familie, mit ihm herumzugehen, »um sich selbst zu überzeugen, daß es keine Stelle gibt, die ungesegnet geblieben ist«. Als er überall gewesen ist – sogar im Zimmer, das Emilia mit Marcus teilt und in dem jetzt dessen Insektenbilder die Wände bedecken –, nickt er Johann zu und erklärt: »Ich glaube nicht, daß es hier drinnen einen unruhigen Geist gibt, Herr Tilsen. So könnt ihr nun alle in Frieden leben.«
    »Wo ist das?« flüstert Marcus Emilia zu.
    »Nirgendwo«, antwortet Emilia. »Es ist nirgendwo.«
    Pastor Hansen hört dies, wendet sich Emilia zu und lächelt. So sieht sie jetzt, daß er wenigstens ein freundliches und gelassenes Lächeln hat und man ihn daher wohl einen Tag und eine Nacht lang, oder wie lange er eben bei ihnen bleiben muß, ertragen könnte, wenn er sich nur den Körper abschrubben und etwas Sauberes anziehen würde, um nicht mehr nach seinem Pferd oder sonst etwas Lebendigem zu riechen. So platzt sie heraus: »Nun wollt Ihr Euch aber doch bestimmt ausruhen und waschen, Herr Hansen. Bitte laßt Euch von mir Euer Zimmer zeigen.«
    Sie sieht, wie ihr Vater nickt und sie beifällig anblickt. Sie schwebt davon und die Treppe hinauf, und Erik Hansen folgt ihr. Und ganz so, wie es Johann Tilsen voraussah, kann Hansen nicht den Blick von ihr wenden. Sie erinnert ihn ein wenig an seine tote Frau, die sich anmutig und flink bewegte und deren Haare weder dunkel noch hell waren. Er begreift sofort, daß ihn Johann Tilsen deswegen eingeladen hat und nicht, weil Magdalenas Geist in den Dachsparren rumorte oder die Vorhänge aufbauschte. Er wollte ihm seine Tochter Emilia zeigen. Als Erik Hansen im Fenster sein Spiegelbild erblickt, lächelt er sich an. Er sieht, daß seine gramvolle Zeit endlich zu Ende geht.

    Er bleibt.
    Die Männer bewerkstelligen es irgendwie, daß der Pastor zu der Überzeugung kommt, daß er nichts Wichtigeres auf der Welt zu tun hat, als mehrere Tage Johann Tilsens Gast zu sein. Sie nehmen den Nebel als Vorwand. Sie sagen, die Straßen seien so tückisch und es käme zu Zusammenstößen, weil man im Nebel nichts hören und nichts sehen kann. »Also«, sagt Johann zu Emilia, »wird Pastor Hansen noch ein wenig länger unser Gast sein, und ich glaube, seine Anwesenheit in diesem Haus ist im Augenblick für alle günstig.«
    Günstig. Emilia findet dieses Wort nichtssagend, ja fast grotesk. Sie weiß, wohin sie ihr Leben geführt hat: an den Ort, wo es begonnen hat. Nur Unmögliches kann dies ändern: die Offenbarung, daß Karen nicht gestorben ist, oder das Auftauchen eines Mannes mit einer Laute aus der weißen Landschaft. Sonst muß es ganz so bleiben, wie es jetzt ist, mit dem gleichen Grad Traurigkeit, mit nicht mehr und nicht weniger. Anzunehmen, etwas oder jemand sei für ihr Leben günstig, bedeutet nichts anderes, als anzunehmen, ein Vogel tue einem Baum etwas grundsätzlich Gutes, wenn er sich auf ihm niederläßt.
    Sie begreift jedoch nur allzu schnell, was die Männer im Sinn haben, und ist nicht ärgerlich darüber, weil diese Dinge nun mal so vonstatten gehen. Es rührt sie sogar ein bißchen, daß ihr Vater ihr einen Mann suchen will und Herr Hansen vielleicht feststellt, daß sie ihm gefällt. Nur scheinen die Männer nicht zu begreifen, wie gänzlich unmöglich es ist. Sie sind wie unschuldige Babys, die nichts wissen. Sie muß über sie lächeln.
    Sie blickt auf Hansen, seinen ausgreifenden Schritt, seine blasse Haut, die sich so straff über seine Stirn und weiter nach hinten über seinen Schädel bis dorthin spannt, wo sein spärliches Haar nur zögernd wächst, und sieht einen Fremden, der er auch immer bleiben wird, und die Distanz zwischen ihm und ihr, die niemals überbrückt werden kann. Als Fremder ist er noch zu tolerieren, doch bei dem schrecklichen Gedanken, er könne ihr plötzlich einen Heiratsantrag machen, wird ihr ganz elend. Das muß unter allen Umständen verhindert werden, beschließt sie.
    Sie zieht Wilhelm ins Vertrauen. Sie sagt ihm allerdings nicht, daß sie einen Mann namens Peter Claire liebt, sondern vielmehr: »Wilhelm, ich möchte lieber gar nicht erst versuchen, einen Mann zu lieben. Würdest du das wohl Vater erklären?«
    Wilhelm greift nach der Hand seiner Schwester. Sie hat nie etwas über ihn und Magdalena erfahren, so daß er für sie noch der alte Wilhelm ist, der Wilhelm, den sie als Knaben kannte und der sich keiner Täuschung und keines Verbrechens schuldig gemacht

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