Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
geschieht. Die Idee, jemand aus einem anderen Teil von Emilias Leben könne den Weg durch den dicken grauen Nebel zu ihr finden, erscheint ihr inzwischen so unwahrscheinlich, daß sie nicht einmal mehr daran denken mag. Daß sie sich manchmal in ihren Träumen in der Sonne am Vogelhaus von Rosenborg befindet, liegt nur daran, sagt sie sich, daß die Vergangenheit sehr hartnäckig und gebieterisch sein kann und es nicht zuläßt, daß man sie bis ins letzte Detail vergißt.
Doch selbst diese Träume werden seltener. Und wenn sie morgens aufwacht und ihr einfällt, daß Magdalena nicht mehr lebt, Marcus beim Lernen Fortschritte macht, ihr Vater freundlich wie früher ist, Ingmar aus Kopenhagen zurückkehrt und sie im Haus so nützlich ist, wie es sich ihre Mutter gewünscht hätte, dann weiß sie, daß ein solches Leben durchaus erträglich ist.
Die Zufriedenheit wird vom ständigen Nebel, der das Land und den Himmel verschwinden läßt, noch verstärkt. Als ihre Henne Gerda in diesen weißen Schleier hinausläuft und nicht mehr gesehen wird, findet sie sich sogar mit dem Verlust des Tiers ohne allzu großes Bedauern ab.
Sich abzufinden, denkt sie, ist die härteste und wichtigste Lektion im Leben.
Johann Tilsen kommt nun zu dem Schluß, daß seine Tochter, die er so vernachlässigt hat, nicht den Rest ihres Lebens mit der Sorge um ihn und ihre Brüder verbringen soll. Es sollte ein Mann für sie gefunden und ihr eine eigene Zukunft zugestanden werden.
Kaum ist Johann dieser Gedanke gekommen, da weiß er auch schon, wer der richtige Mann für sie ist: ein Pastor namens Erik Hansen, ein höflicher, netter Mann mit langen Armen und Beinen und dünnem braunem Haar, das sich im Wind senkrecht stellt. Er ist jetzt vierzig und hat keine Kinder. Seine Frau war in ihrem achtundzwanzigsten Lebensjahr gestorben. Hansen hat zwar nie den Eindruck gemacht, als sei er auf der Suche nach einer zweiten Frau, doch Johann Tilsen glaubt sicher, daß er Emilias Freundlichkeit und stillen Schönheit nicht widerstehen können und sich in ihrem künftigen gemeinsamen Leben hingebungsvoll um sie kümmern wird.
Er sagt niemandem etwas davon. Er schreibt Hansen lediglich einen Brief, in dem er ihn bittet, das Tilsen-Haus zu segnen, denn »ich habe Grund dafür, anzunehmen, daß der Geist meiner toten Frau noch in irgendeiner Ecke lauern, wieder laut werden und uns alle hier daran hindern könnte, in Harmonie zusammenzuleben«. Er fügt noch hinzu, er sei, da Hansens Kirche etwas weiter entfernt liegt und »die Düsternis und der Dunst als Fluch überall um uns herum« sind, herzlich eingeladen, eine Nacht zu bleiben, »oder auch länger, wenn es Eure Zeit erlaubt«.
So kommt es, daß der Pastor Hansen eines Nachmittags, als Emilia gerade aus dem Wohnzimmerfenster blickt, wie ein Schatten auftaucht. Im einen Augenblick ist er noch nicht da, im nächsten vollkommen deutlich zu sehen und ganz nah, als sei er vom Himmel gefallen.
Emilia erschrickt sehr darüber, daß ein Fremder ohne jede Vorwarnung so plötzlich auftauchen kann, und rührt sich deshalb nicht von der Stelle, als er an der Tür klopft. Sie dreht sich nur um und hört, wie der Mann in der feuchten Luft hustet, und gleich darauf, wie das Dienstmädchen öffnet und ihn einläßt. Dann vernimmt sie seine verhaltene Stimme und seine vorsichtigen Schritte und betet, dieser Mann möge doch noch feststellen, daß er im falschen Haus ist, sein Pferd wieder besteigen und für immer verschwinden.
Er geht aber nicht wieder. Johann Tilsen bringt ihn ins Wohnzimmer, und nun sieht Emilia sein blasses Gesicht und seine kleinen Augen. Er verbeugt sich vor ihr, und Emilia muß sich nun erheben und ihn begrüßen.
Pastor Hansen. Herr Erik Hansen. Johann nennt seinen Namen mehr als einmal, offenbar um sicherzugehen, daß Emilia ihn aufnimmt. Der Fremde hält seinen Hut in den Händen, so daß er wie ein reuiger Sünder aussieht. Die Schnallen seiner Schuhe sind schlammbespritzt. Er riecht nach Leder und Pferd, und Emilia muß den Blick von ihm wenden, weil er zu dem gehört, was nicht hier im Haus sein sollte; er gehört zu dem, was ins Meer hinausgetragen und in die dunkle Tiefe darunter versunken sein sollte.
Seine Rituale sind sorgfältig und ordentlich. Mit seinem kleinen Mahagonikreuz geht er von Zimmer zu Zimmer. In jedem kniet er dann auf dem Boden nieder und betet leise, zuerst mit offenen, dann mit fest geschlossenen Augen, als habe er etwas im Raum erblickt, was er nicht noch
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