Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
erschütterten Eindruck. »Ach, meine Liebe! Wie schrecklich! Wie nur konnte das geschehen?«
»Ich weiß es nicht. Ich glaube, daß sich alles im Kreis bewegt. Der König hat Kirsten rausgeworfen – aus gutem Grund. Wo soll sie hingehen, wenn nicht zu mir? Und weil sie noch die Frau des Königs ist, kann sie fast alles tun, was ihr gefällt – oder bildet sich das wenigstens ein. Und so habe ich kein Heim mehr. Sogar mein Keller mit der von eigener Hand hergestellten Marmelade ist beschlagnahmt.
Königin Sofie sieht angesichts dieser Häufung schrecklicher Dinge ganz entgeistert aus. »Oh, meine Liebe!« ruft sie. »Oh, besonders die Marmelade! Fru Marsvin, wir werden sofort etwas unternehmen. Mir lag auf der Zunge, zu sagen, daß ich ein paar Männer nach Boller schicke, um Eure Tochter rauszuwerfen, doch soeben fällt mir etwas Besseres ein. Warum laßt Ihr nicht einfach die Marmelade und ein paar der Euch am Herzen liegenden Sachen holen und wohnt künftig hier bei mir auf Kronborg? Ich lebe ganz einfach, esse Fisch vom Sund. Doch vielleicht stört Euch das ja nicht, denn ich gebe zu, daß ich oft einsam bin …«
Ellen Marsvin protestiert angesichts dieser zur Schau gestellten Großzügigkeit gerade so viel, daß sie die Königinwitwe davon überzeugt, daß sie ihrer Verbündeten tatsächlich den allergrößten Gefallen erweist, stimmt dann aber allem zu. Dann lehnen sich die beiden Frauen zufrieden zurück und lauschen auf die vom Wind getragenen, auf die Küste von Kronborg hereinbrechenden Wellen.
»Es dürfte Stürme geben«, sagt Königin Sofie nach einer Weile, »doch hier sind wir sicher. Von hier aus können wir alles im Auge behalten.«
Ellen Marsvin pflichtet ihr bei.
DRINNEN UND DRAUSSEN
Nach dem Tod Magdalenas, als ihr Leichnam weggebracht und begraben ist, breitet sich im Haus der Tilsens Ruhe aus.
Es ist gerade so, denkt Johann, als haben wir alle eine seltsame Krankheit durchgemacht, eine fieberhafte Infektion, die uns aufgewühlt, ja fast umgebracht hat, und nun ist das Fieber abgeflaut, und wir befinden uns auf dem Weg der Besserung. Wir sind noch schwach (besonders Wilhelm und ich). Wir werden leicht müde. Wir reiten nicht so oft aus wie früher. Bei den Mahlzeiten sprechen wir leise. Doch wir wissen, daß das Fieber nicht wiederkommen wird und wir eines Tages ganz gesund sein werden.
Aus dem Wunsch heraus, Magdalenas Geruch zu beseitigen, im Schlafzimmer, in der Küche, in der letzten Ecke des Hauses, hat Johann einen Schrankkoffer mit all ihren Kleidern und sonstigem Besitz gepackt – mit ihren purpurnen Röcken, Schuhen, ihrem Kochbuch, ihren Kämmen und Bürsten und ihrer Unterwäsche – und alles mit einem Wagen zum Børnehus in Kopenhagen bringen lassen, damit es dort nach Belieben an die Armen verteilt wird. Er hat nichts zurückbehalten, außer ein paar Schmuckstücke, die Ulla bekommen soll, wenn sie älter ist. Diesen Broschen und Halsketten haftet schon nichts mehr von Magdalena an, als seien sie ihr bereits vor langer Zeit entrissen worden oder hätten ihr nie richtig gehört.
Ab und zu findet Johann etwas, was er übersehen hat – ein Taschentuch oder ein Band –, das wirft er dann einfach weg. Im Haus werden keine Kuchen mehr gebacken, und morgens trinken sie keine heiße Schokolade mehr. Die Laube am See ist abgerissen worden, Brett für Brett. Den zerbrochenen Aufziehvogel hat Marcus für sich beansprucht. Er läßt Käfer in dessen Käfig herumlaufen, für den Fall, daß der Vogel plötzlich lebendig wird und Hunger verspürt.
Es ist jetzt später April, doch das Wetter wird nicht schön. Statt dessen legt sich grauer Nebel über Ostjütland. Er hüllt das Haus der Tilsens ein, so daß man den Eindruck gewinnt, es sei von allem und jedem abgeschlossen.
Emilia blickt in den Nebel hinaus und ist irgendwie dankbar dafür. Sie will nämlich nicht mehr danach fragen, was in der weiten Welt geschieht. Am liebsten wäre es ihr, wenn es überhaupt keine weite Welt gäbe. Sie würde sich über das Gerücht freuen, das übrige Dänemark sei vom Meer weggespült worden.
Sie hat jetzt im Haus und auf dem Anwesen eine Rolle übernommen: Sie hilft ihrem Vater bei der Verwaltung. So sitzen sie zusammen am Wohnzimmertisch, schreiben Bestellungen und gleichen Konten aus. Sie sprechen weder von der Vergangenheit noch von der Zukunft – weder von Karen noch von Kirsten Munk, noch von Magdalena –, sondern nur von dem, was Tag für Tag und von Augenblick zu Augenblick
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