Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Titel: Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Tremain
Vom Netzwerk:
hat. Allein schon diese Tatsache macht Emilia für ihn so kostbar. »Vermutlich mußt du heiraten«, sagt er traurig. »Eines Tages …«
    »Nein!« erwidert Emilia.
    »Und wenn du nun deine Meinung änderst, Emilia? Dann war ich dein Fürsprecher und habe mich am Ende damit zum Narren gemacht.«
    Emilia lächelt und sagt ruhig: »Ich ändere meine Meinung nicht.«
    Doch trotz Wilhelms Bemühungen, der sich tapfer und hartnäckig für seine Schwester einsetzt, beschließen die Männer das genaue Gegenteil. Als Erik Hansen schließlich sein Pferd besteigt und in den Nebel hinausreitet, sagen sich er und Johann: »Alles unterliegt dem Wandel. Eines Tages wird Emilia Tilsen ihre Meinung ändern.«

WAS BEI LUTTER GESCHAH
    Der Traum ist König Christian vertraut.
    Er beginnt mit der Ankunft eines zerlumpten Mannes, den er nicht erkennt, aus dessen blauen Augen jedoch ein Stück Vergangenheit strahlt, wie ein einzelner Stein eines schönen Mosaiks, dessen Gesamtmuster (in das der Stein einst paßte) längst in Vergessenheit geraten ist.
    Christian blickt in diese Augen, die in einem wettergegerbten und im Laufe der Zeit faltig gewordenen Gesicht stehen. Der Fremde sagt, er arbeite als Stallbursche. Er hat ein ausgefranstes Lederwams und eine Kniehose an. Seine Arme sind bloß, und er trägt schäbige Stiefel. Er hat langes, blondes Haar, das im Nacken von einem schmutzigen Band zusammengehalten wird. Er sagt, er sei gekommen, um seine Dienste im Heer Seiner Majestät anzubieten, und zwar in einem Reiterregiment, weil er Pferde so gut kenne wie seinen eigenen Namen.
    »Und wie lautet dieser?«
    Nach kurzem Zögern sagt der Fremde: »Bror. Bror Brorson.«
    Bei diesen Worten steigt im König eine heftige Hitze auf, als würde alles, was in dreißig Jahren geschehen ist – alles Wunderbare und aller Kummer –, in ihm noch einmal aufwallen wie siedendes Öl oder kochendes Wasser in einem Kessel. Er kann sich nicht rühren und nicht sprechen, nur gaffen und nicken. Schließlich streckt er die Hand aus, die Bror nimmt und sich auf die Knie fallend an die Lippen preßt.
    Das ist der Augenblick im Traum, in dem es dem König manchmal gelingt aufzuwachen, der Augenblick, in dem sein Heer noch in Thüringen lagert und bevor das andere geschieht, bevor das, was danach kam, ein zweites Mal passiert. In dieser kalten Frühlingsnacht, in seinem Zimmer auf Rosenborg, zu dem er mit Vibeke zurückgekehrt ist, wacht er nun auf, und ihm ist so schrecklich heiß, wie er sich im Traum gefühlt hat. Er weckt Vibeke, die ruhig neben ihm liegt, und flüstert: »Der Traum hat wieder angefangen. Er hat wieder angefangen …«
    »Welcher Traum?« fragt Vibeke freundlich. Sie setzt sich auf und greift nach der Hand des Königs.
    »Bror Brorson!« antwortet der König. »Mein Traum von Bror.«

    Vibeke Kruse war nie eine besonders kultivierte Frau gewesen und wird es auch niemals sein. Ihre Weigerung, nach tiefer Weisheit zu streben – worüber sich Kirsten oft mokiert und lustig gemacht hat –, beruht auf ihrem unausgesprochenen Glauben, ihr überquellender Schatz einfacher Sprichwörter und Redensarten verleihe ihr ausreichend Weisheit. Kirsten hatte über ihre Sprüche oft gelacht, doch Vibeke hatte sich nicht darum gekümmert und sie weiterhin denjenigen angeboten, die Rat oder Trost suchten.
    Sie merkt, daß jetzt so ein Augenblick gekommen ist, denn der König ist gequält und fiebrig. Er bittet sie, ihm über den Kopf zu streichen, von dem sich seine lange Locke gelöst hat, so daß sich die feuchte Haarsträhne wie ein schwarzes Seil um seinen Hals windet. Vibeke nimmt sie dort vorsichtig weg und schiebt sie ihm sanft über die Schulter. Dann sagt sie: »Träume sind Schäume!«
    König Christian schweigt. Nicht zum erstenmal geht ihm durch den Kopf, wie leichtfertig Frauen oft mit Worten umgehen, offenbar ohne zu begreifen, welche Folgen sie haben können. Diese Beobachtung macht schon bald etwas anderem Platz, etwas, was er später »ein Gefühl der Versuchung« oder »eine plötzliche Sehnsucht, mich von diesen Schrecken zu befreien«, nennen wird.
    Es war ihm nämlich nie möglich gewesen, über das zu sprechen, was geschah, nachdem Bror Brorson in seinen zerrissenen Sachen in Thüringen angekommen war und ihm die Hand geküßt hatte. Es war, als habe er nie den richtigen Zuhörer gehabt oder dieser habe seine eigentliche Aufgabe nicht verstanden, die darin lag, zu gewährleisten, daß das Erzählen der Geschichte den König nicht so

Weitere Kostenlose Bücher