Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
Befehl zum Rückzug … Eine andere Taktik gab es nicht, weil ich ja sah, daß wir geschlagen waren.
Wir rissen unsere Pferde herum, wobei einige beim plötzlichen Umschwenken der Frontlinie herunterfielen, und ich verfluchte mich wegen meiner mangelnden Geschicklichkeit auf dem Feld und schalt mich, daß ich meine Soldaten in dieses schreckliche Durcheinander geführt hatte. Ich hatte vor Augen, daß man mir dies niemals vergessen würde, und ich verdiente auch keine Vergebung!
Wir ritten durch ein Tal voller toter Dänen zurück, und ich wußte, daß ich die Scham und Qual darüber immer im Gedächtnis behalten würde. Wir konnten aber nicht anhalten, um sie aufzuheben und mitzunehmen. Unsere Kanone war von Tillys Fußvolk erobert worden, und wir wurden auf der Flucht damit beschossen.
Wir ritten durch Lutter Richtung Norden. Es dauerte nicht lange, da hörte ich Tillys Heer singen und jubeln, und es brach mir das Herz. Ich ahnte ja, wie viele wir verloren hatten. Dieser Wahnsinn – ich hätte ja in Dänemark bleiben und überhaupt nicht an diesen Religionskriegen teilnehmen können – erfüllte mich mit einem solchen Entsetzen, als sei mir ein Schwert in die Brust gestoßen worden, und ich verspürte Eiseskälte am ganzen Körper.«
Wieder hält der König inne. Vibeke fühlt jetzt, wie sich das Fieber in seinem Körper ausbreitet. Er zittert, und seine Haut fühlt sich klamm an. Sie versucht, die Decke hochzuziehen und ihn fester darin einzuwickeln.
Doch er schreckt auf und stößt die Decke weg. »Elender Krieg!« ruft er, die Hand an der Kehle, als würde er gewürgt. »Schlimmer als die Pest! Krieg ist schrecklicher als alles andere! Denn was Männer da tun … was sie sich nie hätten vorstellen können …
Ich ging nämlich mit anderen zusammen im Dunkeln zurück, um die Toten zu suchen und zurückzubringen. Und ich fand sie, im Mondlicht … unter dem vollen Sommermond, die Toten und diejenigen, die … Ich war darauf vorbereitet gewesen, auf unsere Toten zu stoßen, doch sie hatten, als wir auf unserem Rückzug an ihnen vorbeiritten, wie Schlafende ausgesehen, und ich hatte mir Seelen vorgestellt, die ihren Frieden gefunden hatten.
Doch im Dorf Lutter gab es keine einzige friedliche Seele. Keine einzige. Es war die reinste Hölle und Barbarei, wie ich es mir nie hätte vorstellen können. Wir hatten gewußt, daß Tillys Soldaten gesetzlos waren, daß sie Gräber öffneten, um nach Gold zu suchen, Kirchen plünderten und die Frauen der Bauern vergewaltigten … aber hier in Lutter …
Sie hatten ihm die Augen herausgenommen. Als wären es wertvolle Steine gewesen. Und er war … er hatte nichts, woran er sich festhalten oder klammern konnte, keinen Boden, um darauf zu liegen. Er hing in der Luft, auf einen Stock gespießt, aber noch nicht tot, Vibeke, nicht tot, er hatte keinen Frieden gefunden! Er hielt die Arme ausgestreckt, die Arme ausgestreckt … um sich irgendwo festzuhalten, doch da war nichts. Da war nichts und niemand. Nur Luft …
Als ich ihn sah, rief ich: ›Bror Brorson!‹, nannte seinen Namen, wie schon damals in der Koldinghus-Schule, als ich an seinem Bett mit dem Tod kämpfte. Ich sagte ihn immer wieder und immer lauter: ›Bror Brorson! Bror Brorson!‹, als könne ihn das Aussprechen seines Namens ein zweites Mal retten. Bis ich begriff, daß er sich beim Herausschreien veränderte und ein anderes Wort wurde: Rorb Rorson … Rorb …
Und dann ließ ich mich auf die Schultern meiner Soldaten heben und nahm ihn in die Arme.«
Der König sagt nichts mehr. Die Geschichte ist erzählt. Sie ist vorbei.
Er lehnt sich gegen das Kissen zurück. Er ist sehr blaß und hat rund um die Augen bläuliche Stellen, die Vibeke liebevoll mit dem Daumen berührt.
WAS VERTRAUEN ANGEHT
Als es April wird, malt Charlotte Claire ein Bild von den bis zur Hochzeit verbleibenden Tagen. Jeden Tag stellt sie durch einen Gegenstand dar, der mit den Vorbereitungen, Mrs. George Middleton zu werden, im Zusammenhang steht: einen Satinschuh, eine Haarlocke, die mit der Schere abgeschnitten wird, ein Gebetsbuch, ein Spitzenstrumpfband, ein Rezept für eine Obst-speise mit Sahne, ein Liliensträußchen und ein Messer. Als Anne Claire Charlotte fragt, warum das Bild vom Messer dabei ist, erwidert diese: »Es ist nicht bloß ein Messer, Mutter. Es ist eine Lanzette. Sie soll mich daran erinnern, daß George sterblich ist.«
»Wir sind alle sterblich, Charlotte!« antwortet Anne.
»Ich weiß«, erwidert
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