Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
Vielleicht liegt ja, wenn wir nach Dänemark zurücksegeln, sein Leichnam in einem Sarg unten im Laderaum? Was meint Ihr, Herr Claire? Dann wärt Ihr jedenfalls frei. Frei, zu dem zurückzukehren, wovon Ihr geträumt habt.«
»Nein«, erwidert Peter Claire. »Ich wäre nicht frei.«
Sie sind die ganze Nacht unterwegs und halten nur einmal an, damit sich die Maulesel und Pferde ausruhen können, während die Köche im Schnee Feuer anzünden und ein Mahl zubereiten. König Christian trägt jetzt einen riesigen Ledermantel, der bei jeder Bewegung knistert. Er trinkt drei Krüge Wein und behauptet dann, die vom Feuer beschienenen Schneeverwehungen sähen aus wie nackte Frauen, die überall am Wegesrand kauern »und mich mit ihren hübschen Hüften verführen wollen«. Er muß sich in sein unbequemes Bett im königlichen Wagen helfen lassen und protestiert dabei, daß er auch im Schlaf keine Ruhe mehr findet, weil er sich um alles kümmern muß. Als er weggetragen wird, spuckt Krenze in den Schneematsch.
Peter Claire schreckt auf, als der Wagen mit einem Ruck zum Stehen kommt, und er hört, wie der Fahrer den Mauleseln zuruft. Auch Krenze wacht auf und murmelt etwas von Flöhen in den Säcken und quälenden Stichen am nächsten Morgen. Da öffnet einer der Herren des Königs die Türklappe, hält eine Fackel hoch und erteilt Peter Claire den Befehl, ihm mit seiner Laute zum Wagen des Königs zu folgen.
Peter Claire ist es im Sackleinen endlich warm geworden, so daß er sein Behelfsbett nur widerstrebend verläßt. Dennoch zieht er sich gehorsam die Stiefel an, nimmt sein Instrument und folgt dem Mann hinaus in die eisige Nacht. Unter dem kalten Sternenhimmel dampfen die Körper der armen Maulesel und Pferde, und auf den Bärten und Augenbrauen der Kutscher bildet sich Eis.
»Seine Majestät fühlen sich nicht wohl«, sagt der Herr, der wie ein englischer Adliger spricht. »Ihn plagen sein Magen und lauter kleine Ängste.«
Im königlichen Wagen herrscht ein übler Geruch, und als sich Peter Claire dem Haufen brauner Felle nähert, aus dem der bekümmerte Kopf Seiner Majestät wie eine Kartoffel aus der Erde ragt, merkt er, daß dessen Atem nach Erbrochenem stinkt. Man hat ihm eine Schüssel hingestellt, und ein Diener steht mit feuchten Lappen und sauberen Tüchern bereit. Peter Claire spürt, wie auch sein Magen bei dem Gedanken rebelliert, den Rest der Nacht in diesem übelriechenden Wagen eingesperrt zu sein, doch es gelingt ihm, mit seinem Unwohlsein fertig zu werden, und so setzt er sich, wie befohlen, neben dem König auf einen Stuhl.
»So ist mein Vater gestorben«, sagt König Christian. »An einer Erkrankung des Magens und der Eingeweide. Ich war elf Jahre alt, also nicht Zeuge, doch die Ärzte haben es mir erzählt.« Er trinkt einen kleinen Schluck Wasser und fügt hinzu: »Er hatte natürlich keinen Engel, um bei ihm Wache zu halten.«
Peter Claire will gerade antworten, daß nur sehr wenigen Menschen irgendwelche Macht gegenüber Krankheit oder dem langsamen Versagen der inneren Organe verliehen ist, als der König sagt: »Unsere Illusionen und Phantasien trösten uns nicht weniger als alles Wirkliche und Nachweisbare. Ist es nicht so, Mr. Claire?«
Peter Claire denkt daran, wie er sich – eine Zeitlang – Täuschungen über die Möglichkeit eines künftigen Lebens mit Francesca O’Fingal hingegeben hat, und erwidert: »Nun, Sir, ich meine, Illusionen müssen, wenn sie uns trösten sollen, staffelartig auftreten, eine nach der anderen, damit wir nicht zu lange bei einer einzigen verweilen müssen, es sei denn, wir entdecken plötzlich, daß sie eine starke Wahrheit enthält.«
Der König starrt ihn mit offenem Mund an, und plötzlich macht sich ein Ausdruck des Entsetzens auf seinem Gesicht breit. Er schluckt ein paarmal, als habe er mit aufsteigender Übelkeit zu kämpfen. Der Diener reicht Seiner Majestät die Schüssel und hält die Tücher bereit.
Doch der König scheint sich zu erholen, jedenfalls genügend, um auf Peter Claires Laute deuten zu können. Der Herr, der mit einer Kerze in der Hand in ihrer Nähe kauert, flüstert: »Spielt, Mr. Claire! Jedoch nichts Wildes oder Schwieriges.«
Peter stimmt die Laute, beugt sich vor, als lausche er auf einen Klang, der sich gleich aus der stinkenden Dunkelheit des Wagens erheben wird, und beginnt eine Melodie des deutschen Komponisten Matthias Werrecore zu spielen. Er nimmt zwar noch das Schnauben und Stampfen der Pferde draußen wahr, doch
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