Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
es ihm zurückgeben sollen, doch ein Gefühl, es könnte sich eines Tages als nützlich erweisen, hielt mich davon ab. Es handelt sich um ein Rezept, und ich glaube, es könnte jetzt seinen Zweck erfüllen. Ihr müßt aber vorsichtig sein und die Anleitung ganz genau befolgen, damit ihr keinen Schaden nehmt. Ihr benötigt dafür eure ganze Geschicklichkeit und Findigkeit.«
Sie durchsuchte Schubladen und Schränke, Papiere und alte Stricksachen, und schließlich fand sie ein Stück Pergament, das ein wenig abgegriffen wirkte, als sei es immer wieder angesehen worden. Sie reichte es Christian, der es zusammen mit Bror aufmerksam anschaute. Es war die Zeichnung einer Feuerwerksrakete.
»Bitte schön!« sagte die Herzogin Elisabeth. »Nun, Bror, ich habe gehört, daß du sehr geschickt bist. Siehst du die Liste der Bestandteile und die Anleitung zum Zusammenbauen hier unter der Zeichnung?«
Bror war vom Gedanken des triumphalen Aufstiegs der Rakete in die Wolken über Dänemark sogleich fasziniert, doch Liste und Anleitung waren für ihn Symbole ohne Bedeutung.
Christian sah das Zögern seines Freundes und las sogleich aus Tycho Brahes verblichener Niederschrift vor: »Sal petrae, 70 Teile; Sulphura, 18 Teile; Carb. amorph., 16 Teile.«
»Richtig!« sagte die Herzogin. »Die Waffenschmiede von Slotsholmen geben euch, was ihr braucht. Ihr müßt jedoch alles sehr sorgfältig abwiegen. Und hört mir zu, Kinder! Macht sie nicht zu groß!«
Wie groß war zu groß? Christian schlug vor, sie so groß zu machen, wie er war. Bror meinte, eine solche Rakete würde das Schloßdach wegjagen.
Am Ende einigten sie sich darauf, sie ungefähr so lang wie Christians Bein vom Knie bis zum Fuß und so dick wie sein Wadenbein an der dicksten Stelle zu machen. Sie kamen überein, daß es nicht allzu schwierig sein dürfte, einen solchen Gegenstand zu verstecken, »so daß alle sehr erstaunt und verwundert sind, wenn wir die Rakete zum Himmel schicken, und gleichzeitig eine zufriedenstellende Furcht empfinden«.
Tycho Brahes Instruktionen für den Mantel waren »ein Käfig aus Korbgeflecht, der am Ende so perfekt gerundet ist, daß nur eine kleine Öffnung in der Mitte verbleibt, welche die sichere Anbringung eines Schwanzes aus Korbmaterial als Gewicht und Rohr erlaubt. Auf diesen Raketenmantel kommt ein spitzes, hervorragend ausbalanciertes Dach. Der Käfig wird mit einer dünnen Haut oder elastischem Pergament bespannt, so daß nirgends Luft eintreten kann, außer an der unteren Öffnung.«
Christian und Bror Brorson erzählten den Stallburschen, sie wollten die Wildschweine im Wald mit Bogenschießen necken, und ritten zu den Toren Frederiksborgs hinaus. Ihr Weg führte sie zuerst zu einem Korbmacher, der ihnen von den Köchen im Palast empfohlen worden war, und dann zu einem Papierhändler. Beiden erteilten sie ihre Aufträge und ließen Zeichnungen und genaue Maßangaben zurück. Auf der Straße nach Kopenhagen, von wo aus sie sich nach Slotsholmen rudern lassen wollten, wurden sie vom Wagen der Königin eingeholt. Die Dunkelheit brach schon herein, und der Himmel im Westen war von Schneewolken verhangen, so daß ihnen die ärgerliche Königin aus der Tiefe ihrer Pelzdecken heraus befahl umzukehren.
»Dann morgen wieder!« sagte Christian, als sie zurückritten. »Morgen ist auch noch ein Tag.«
Durch den Erwerb der einzelnen Bestandteile der Feuerwerksrakete und den stundenlangen gemeinsamen Zusammenbau wurden Christian und Bror zu Geheimniskrämern. Christians jüngere Brüder Ulrich und Hans durften nicht in ihre Zimmer und nicht mitmachen. Die Gesellschaft der Ein-Wort-Signierer führte von frühmorgens bis spätabends ein rätselhaftes Eigenleben.
Wie die Welt Christian vergessen hatte, so hatte er im Augenblick die Welt vergessen. Ihm schien es, als gehöre Bror Brorson schon immer zu Frederiksborg und werde nie fortgehen. In seinen Träumen wurde er ein magisches Wesen. Er bildete sich ein, es könne ihm nichts passieren, solange er an seiner Seite war. Gott und die Kalligraphie hatten ihm geholfen, Bror das Leben zu retten. Und nun würde Bror auf ihn aufpassen.
Die fertige Rakete brachten sie dann in die Räume der Herzogin von Mecklenburg, wo diese sie auf winzige Löcher und Risse hin untersuchte. Als sie keine fand, stellten sie den Sprengkörper mit der Spitze nach oben aufs Fensterbrett. »Gute Handwerksarbeit«, sagte sie. »Dein Vater, der verstorbene König, wäre stolz darauf gewesen. Und nun kommt der
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