Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
Ewigkeit plötzlich weniger unendlich. Das ist wohlbekannt, Emilia, meine Liebe. Wohlbekannt all denen, die schon ein wenig länger auf der Welt sind als du.«
ÜBER STOFF UND LUFT
»Man stelle sich vor«, pflegte sich der König zu brüsten, »wie sich ein Ball Seidengarn über Rußland aufrollt! Man stelle sich die Hügel, Täler und Städte, die Flüsse, Berge und Katarakte sowie die vereisten Seen vor, die der Faden überqueren müßte! Mit einem solchen Ball wurde die Kleidung für die Krönung genäht. Alle im Land hatten neue Kleider in den roten und gelben Farben des Hauses Oldenburg: die Soldaten, Matrosen, Musketiere, Waschmädchen, Tanzmeister, Kaufleute, Geldverleiher, Hebammen, Kinder … alle! Es war ein Erlaß von mir.«
Es heißt, daß die Schneider und Knopfmacher im Krönungsjahr 1596 wahrscheinlich mehr Geld verdienten als in ihrem ganzen restlichen Leben. Manche arbeiteten so viele Stunden hintereinander, daß sie von einer vorübergehenden Blindheit geschlagen wurden und den König an dem großen Tag nicht sehen konnten, als er unter seinem bestickten Baldachin an ihnen vorbeikam. Doch sie konnten sich wenigstens auf den Kopenhagener Straßen betrinken. Auf Befehl des Königs waren alle Brunnen der Stadt trockengelegt, gereinigt und dann mit rotem und goldenem Wein gefüllt worden, und die Bürger tranken sie alle aus.
König Christian hatte neun Jahre auf seine Krönung gewartet. Niemand in Dänemark sollte diesen historischen Augenblick vergessen.
Eine Woche vor der Krönung schickte er nach Bror Brorson.
Königin Sofie sandte eine geheime Nachricht zu Brors Haus in Fünen und befahl ihm, nicht zu kommen. Er tat es aber trotzdem. Es war, als hätten die Worte der Königin keinerlei Bedeutung für ihn gehabt.
Er war groß geworden. Sein Gesicht war so hübsch wie früher, und er hatte noch die goldenen, wilden Haare. Es gab aber auch Veränderungen bei ihm. Er hatte jetzt O-Beine vom stundenlangen Reiten – seiner einzigen Freizeitbeschäftigung. Dadurch wirkte sein Gang ungeschickt, fast töricht. Und seine blauen Augen, jene Augen von der Farbe des Himmels: da stimmte etwas nicht in der Art, wie sie die Dinge betrachteten. Sie blickten auf etwas und schienen doch nichts zu sehen.
»Bror«, sagte sein königlicher Freund, als er ihn auf Frederiksborg willkommen hieß. »Ich würde gern hören, daß du glücklich bist.«
Bror lachte und wirbelte mit der Reitpeitsche etwas Staub auf. »Erinnerst du dich noch«, fragte er, »an Hans Mikkelsons Fliegenklatsche?«
»Ja.«
»Dort wäre ich gern – in der Koldinghus-Schule. Es würde mir nicht einmal etwas ausmachen, im Keller zu sein, weil ich ja schon wüßte, daß du mich retten würdest.«
»Aber wie kann man sich nur wünschen, noch einmal in der Koldinghus zu sein?«
»Nur, um wieder ein Knabe zu sein.«
Bror hatte einen ruhelosen Körper; immer wieder veränderte er seine Haltung, stets war er in Bewegung, wie jemand, der ständig etwas suchte, was er verlegt hatte, aber nicht wußte, was es eigentlich war. Selbst im Schlaf zappelte er die ganze Zeit, so daß seine Kissen auf den Boden fielen und seine Laken zerknüllt und durcheinander waren. Königin Sofie warnte Christian, daß sein Freund verrückt wurde.
Doch in diesem Augenblick seiner Machtübernahme wollte König Christian glauben, daß alles in seinem früheren Leben eine Bedeutung hatte und von Gott bestimmt war. Gott hatte verfügt, daß König Frederik früh starb, da er wußte, wie sehr sich Christian nach der Herrschaft sehnte. Gott hatte verfügt, daß er einen so produktiven Verstand besaß, daß er fünf Sprachen darin hegen und pflegen und so überall in Europa verstanden werden und Bewunderung erwecken konnte. Gott hatte verfügt, daß er Tycho Brahes Rezept für eine Rakete von der Herzogin von Mecklenburg erhielt, und Gott hatte verfügt, daß er Bror Brorson das Leben rettete. Also gehörte Bror zum Plan Gottes. Es mußte einen Grund dafür geben, daß er gerettet worden war.
Am Krönungstag weckte Christian Bror schon im Morgengrauen.
Auf dem See von Schloß Frederiksborg lag noch die glasige Stille der Nacht. In Brors Schrank hing der scharlachrotgoldene Anzug für diesen einzigartigen Tag, und im königlichen Schlafgemach war die Robe aus weißer Seide bereitgelegt, in der der neue König beim Ritt zur Kirche glänzen sollte. Und in den Gewölben der Frue Kirke lag auf einem Samtkissen die Krone.
»Bror«, sagte Christian, »laß uns der Sonne
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