Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
Nachfolgerin Vibekes als Frau für den Körper, schnürt ihr die Taille, so fest sie kann, und dann wird Kirsten, die kaum noch atmen und laufen kann, von ihrem bewundernden Gatten in den großen Saal geführt.
Sie sitzt neben Sir Mark Langton Smythe, und sie unterhalten sich in Deutsch. Sir Mark hat sich bemüht, diese Sprache perfekt zu lernen, weil es ihm besonders gefällt, wie sich in ihr das Verb in fast allen Sätzen bis fast zum Schluß mit seiner eigenen Vervollständigung zurückhält, wodurch alle Sprachkonstruktionen einen geheimnisvollen, losen Faden haben.
Er findet Kirsten Munk geheimnisvoll, verführerisch und seltsam. Sie fragt ihn nach der Insel Tortuga, von der Samuel und Emmanuel stammen, und ist dann offenbar ganz entzückt von seinen Geschichten über weiße Sandstrände, Brotbäume, fliegende Affen, Zauberei und Wirbelstürme, die Holzhäuser in den Himmel heben. Er kann jedoch nicht wissen, daß Kirsten, als er von diesen fernen Orten spricht, plötzlich etwas bewußt wird, was ihr nie zuvor aufgefallen war, und zwar die Beschränktheit ihres Lebens.
Als die gefüllten Hühner serviert werden, schiebt sie das Essen zurück und beginnt von einem neuen Leben zu träumen, weit weg von Dänemark, meilenweit entfernt von diesem alten, wasserumspülten Königreich, an einem neuen Ort, wo der Sand die Farbe von Perlen hat, die Tiere über einen hinwegfliegen, Zimtkuchen an Büschen wächst und ihre einzigen Gefährten Otto und ihre liebe Freundin Emilia sind. Alle anderen sind von einem Wirbelsturm in den Himmel gerissen worden. Oh, denkt Kirsten, wie schön das wäre – wie schön und vollkommen!
Botschafter Langton Smythe fällt auf, daß seine Tischdame blaß geworden ist, und reicht ihr einen Kelch Wasser. Doch seine Fürsorge kommt zu spät. Kirsten spürt, wie sie langsam vom Bankett verschwindet und woanders wieder auftaucht. Sie kann nicht sagen, wo dieses Woanders sein könnte, doch vielleicht, überlegt sie, schwebt sie ja über den Wolken und wird gleich auf einem Brotbaum landen? Sie hört, wie der Wind über ihr seufzt, oder ist es das Meer, das unter ihr seufzt und sie zu sich ruft?
Sie fällt zur Seite, wobei ihr Kopf Sir Marks Ellbogen streift und dann auf dem kalten Marmorboden aufschlägt.
Die Zuhörer versammeln sich fürs Konzert. Sie blinzeln in der Sonne und fühlen sich schläfrig und voll. Die meisten von ihnen wissen, daß sie, sobald die Musik einsetzt, in einen tiefen Schlaf fallen werden, streiten aber jetzt trotzdem um die besten Plätze, drängen einander zur Seite und breiten sich und ihre Habseligkeiten über ganze Stuhlreihen aus.
Kaum sitzen sie und kaum hat sich das Orchester auf einem Podium vor ihnen niedergelassen, da werden sie auch schon wieder unruhig. Das Konzert kann nicht ohne den König beginnen, doch dieser hat das Bankett verlassen, als Kirsten ohnmächtig wurde, und ist nicht zurückgekehrt. Sein vergoldeter Stuhl in der vordersten Reihe ist leer. Das Publikum gähnt, streckt sich, tuschelt, bewundert die Rosen, gähnt noch einmal und beginnt einzudösen.
Peter Claire (der nicht am Bankett teilgenommen hat und daher auch nicht Zeuge von Kirstens Zusammenbruch geworden ist) sucht unter den auf die Brust gesunkenen und nickenden Köpfen nach Emilia Tilsen.
Er nimmt an, daß Kirsten ihren Auftritt mit dem König haben wird, und vielleicht wird er dann im Schatten des königlichen Paares das Mädchen sehen, das in nur wenigen Minuten seine Phantasie mit Beschlag belegt hat.
Er ist müde, weil er die ganze Nacht in seinem Zimmer über den Ställen wach war und ein kleines Musikstück komponierte, das er »Lied für Emilia« genannt hat. Es ist noch nicht fertig, geschweige denn überarbeitet, doch er glaubt, eine passende Melodie gefunden zu haben: eine gefällige und einfache. Und er hat auch schon die ersten Worte dafür. Sie machen ihn verlegen, freuen ihn und machen ihn wieder verlegen. Er weiß, daß er kein Poet ist. Dennoch scheinen seine Gefühle nach einem Ausdruck zu verlangen, der erhabener und wahrhaftiger ist, als es die gewöhnliche Sprache wiederzugeben vermag. Zum erstenmal in seinem Leben versucht er, ein Liebeslied zu schreiben, und er vermutet jetzt, daß dies nie eine so leichte und mühelose Sache ist, wie es Dichter wie Shakespeare erscheinen lassen. Ja, es kommt ihm in diesem Augenblick sogar so vor, als sei es eine nicht unbeträchtliche Bürde, die jeder Engländer tragen muß, nicht Shakespeare zu sein. Und er fragt
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