Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
war das alles, was getan werden konnte.
Sogar die Kranken und Sterbenden sollen an jenem Augustmorgen in Kopenhagen aufgestanden sein. Auf den Straßen war ein solches Gedränge, daß es manchmal schien, als gebe es keine Luft mehr zum Atmen. Einige Bürger fingen an, zu keuchen und die Arme emporzureißen, als wollten sie sich vom Himmel eine frische Brise holen.
Sie bewegten sich und riefen, als wären sie eine einzige scharlachrotgoldene Masse: die Untertanen Seiner Majestät König Christian IV ., König von Dänemark, König von Norwegen, König der Goten und Wenden, Herzog von Schleswig-Holstein, Stormarn und Dithmarschen, Graf von Oldenburg und Delmenhorst. Umringt von Trommlern, Trompetern, Soldaten und blumenstreuenden Kindern, ritt er auf seinem Grauschimmel unter einem scharlachroten Baldachin, der von vier Adligen über ihn gehalten wurde, zur Frue Kirke, und das Rufen und Jubeln der Menschen folgte ihm auf Schritt und Tritt.
Und dann betrat er die Kirche, in der es – jedenfalls Christians Erinnerung nach – ohne die Menschen und ihre Rufe und Blumen kalt und still war. Hier war es feierlich, wurde mit ernster Stimme gesprochen, und ein Hauch von Traurigkeit hing in der Luft, Traurigkeit wegen der dahingeschiedenen Könige und Kleinheit der Menschen inmitten ihres gewaltigen Strebens.
Als sich ihm die drei Bischöfe näherten, um sechshändig die Krone auf das Haupt des jungen Königs zu legen, schien es ihm, als gehe der Geruch von dort aus, liege im purpurgoldweißen Ornat der drei Bischöfe, und als er vor ihnen niederkniete und ihn diese Gewänder umschlossen, mußte er mit aufsteigendem Widerwillen und Panik kämpfen. Denn dieser Geruch, der alles umfaßte und umschloß, schien ebendas zu verneinen, was Christian durch das Auflegen der schweren Krone aufs Haupt verliehen wurde: die weltliche Macht. Der Duft, der aus den Gewändern der Bischöfe stieg, bestätigte seine Schwäche und Ohnmacht im Angesicht Gottes. Über seinem Kopf wurden die Salbungsworte geflüstert. Es war der wichtigste Augenblick in seinem Leben. Doch was war ein solcher Augenblick? Auch ein Mensch auf seinem Gipfel ist sterblich. Ein Nagel, in den er tritt, kann seinem Leben ein Ende bereiten. Nie überleben Könige ihre Untertanen.
Zum erstenmal in seinem Leben begriff König Christian, daß Gott unbarmherzig war. Das Gewicht der reich verzierten, juwelenbesetzten Krone empfand er, als sie ihm jetzt aus den Händen der Bischöfe aufs Haupt fiel, als zu schwer.
Dann war der Gottesdienst endlich vorüber, und er schritt zur Tür der Frue Kirke und wieder hinaus in die Sonne, wo das Jubelgeschrei erneut einsetzte. Und nun, als das Getöse der Hosiannas der Menschenmenge die Luft erfüllte, spürte er, wie seine Melancholie verging und ihm die Krone leicht auf dem Kopf wurde.
Sein Blick wanderte zu den Dächern der Häuser über den Leuten und blieb dort ruhen. Seine Augen sahen eine neue Himmelslandschaft mit einer großen Vielfalt anmutiger Türme. Als König würde er nun ein Bebauungsprogramm in die Wege leiten, wie es Kopenhagen noch nie erlebt hatte. Er würde die besten Architekten der Welt und erfahrensten Handwerker beschäftigen. Bei ihm würden Einfallsreichtum und Können zählen, genau wie bei seinem Vater in seiner Wachsamkeit gegen Schludrigkeit. Eine neue Stadt würde sich in den wolkenlosen Himmel erheben.
Etwas hinter ihm stand in seiner rotgoldenen Kleidung Bror Brorson, der darauf wartete, ihm zum Krönungsbankett zu folgen, und bestimmt auch darauf, ihn um eine Gunst zu bitten, die seinem unruhigen Leben einen Sinn geben würde. Doch Christian wußte jetzt, daß er für Bror nichts tun konnte. Es war falsch gewesen zu glauben, Gott – der grausame und mitleidlose Gott, der sich ihm in den Bischofsgewändern offenbart hatte – habe Bror für einen bestimmten Zweck »gerettet«. Es gab keinen bestimmten Zweck für Bror. Es war sinnlos zu glauben, ein Mann wie dieser, der nicht einmal seinen Namen schreiben konnte, könne einen wichtigen Platz in dem neuen Dänemark einnehmen, das er, König Christian IV ., erschaffen würde. Bror würde alle künftigen Schlachten allein ausfechten müssen.
Doch noch wollte König Christian eine Kehrtwendung machen und sich nach Bror umdrehen. Er wollte ihm eine flüchtige Sekunde lang in die Augen blicken, um zu sehen, ob in ihnen etwas lag, was die Vergangenheit wieder heraufbeschwor und womit Bror bei ihm eine Sinnesänderung hervorrief. Er wollte seine
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