Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
Entscheidung einer Prüfung unterziehen. Doch in diesem Augenblick nahmen die vier Adligen mit dem Baldachin um ihn herum Aufstellung, und der Kanzler flüsterte ihm zu: »Geht jetzt, Sir! Setzt Euch in Bewegung, damit die Prozession beginnen kann.«
Und so konnte er sich nicht umdrehen. Statt dessen lief er seinem Volk in die Arme, das ihm Rosen vor die Füße warf, und Bror Brorson zog in einiger Entfernung hinter ihm mit, lächelte sein leeres Lächeln und hatte keine Ahnung, daß ihn der König allmählich aus dem Gedächtnis verlor.
BRIEF DES PFARRERS JAMES WHITTAKER CLAIRE AN SEINEN SOHN PETER
Mein lieber Sohn,
Charlotte hat mich beauftragt, Dir für Deinen lieben Brief an sie und Dein Geschenk, den Zigeuner-Ohrring, zu danken. Ich habe ihr gesagt, daß sie Dir selbst schreiben muß, doch sie bittet mich, Dir zu sagen, daß sie vollauf mit dem Kauf von Unterröcken, Seidenstrümpfen, Kissenbezügen, Bändern und all der tausenderlei Dinge beschäftigt ist, die anscheinend für das künftige Leben einer Braut nötig sind, und so im Augenblick keine Zeit hat, sich dieser Aufgabe zu widmen.
Wir waren alle glücklich, zu hören, daß Du aus Norwegen und von der Silbermine wieder nach Kopenhagen zurückgekehrt bist. Es scheint ja dort sehr einsam gewesen zu sein, und ich stelle mir dich nicht gern dort vor, wenn meine Gedanken zu Dir wandern – was an jedem Tag viele Male geschieht. Daß die Kastanien in Dänemark blühen, erfreut mein Herz, weil es bedeutet, daß es jetzt dort auch Sommer geworden ist. In Suffolk haben sie schon geblüht, die Blüten sind wieder abgefallen, und die stachligen Schalen der Früchte (die Charlotte, wie Du Dich sicher erinnern kannst, »Baummobiliar« nennt) werden grün und hart. Daraus ersiehst Du, daß die Natur bei uns etwas weiter ist als bei Euch, doch schließe daraus nicht, daß wir Dich in irgendeiner Weise zurückgelassen haben oder erlaubt hätten, daß unser Leben weitergeht, als wärst Du nicht noch ein kostbarer Teil davon.
Und so komme ich nun zu der Neuigkeit, die ich Dir nach Meinung Deiner Mutter nicht mitteilen soll, worauf ich Dich aber nach reiflicher Überlegung dennoch aufmerksam machen möchte.
Unser alter Freund Anthony Grimes, der Chorleiter und Organist unserer Kirche, ist gestorben. Wir haben ihn am vergangenen Freitag morgen zu Grabe getragen, und er hat seine letzte Ruhe in Reichweite der Glocken der St. Benedict the Healer gefunden. Alle in der Gemeinde trauern um ihn, und keiner von uns wird ihn je vergessen. Er war ein selten talentierter Musiker und eine so gute Seele, daß seine bloße Gegenwart in mir ein Gefühl lieblicher Ruhe hervorrief. Ich weiß, daß er jetzt bei den Engeln ist.
Ich muß mich nun sofort anschicken, einen neuen jungen Chor-meister zu finden, damit wir uns weiterhin in der St. Benedict the H. erhabener Musik erfreuen können. Und da hat sich bei mir nun ein Gedanke eingeschlichen. Warum kommst Du nicht zu uns zurück, mein geliebter Sohn, und übernimmst diese Stelle? Niemand weiß besser als Du, was für einen hohen Standard im Hinblick auf die Qualität der Musik wir hier immer aufrechterhalten haben, und ich kann Dir getreulich sagen, daß Dein Talent nicht vergeudet wäre. Mehr noch, der Chormeister erhält ein gutes Gehalt, und Anthony Grimes hat mir sehr oft erzählt, er habe alles, was er sich wünscht. Und noch mehr: Ich weiß, wie sehr Dir am Herzen liegt, zu komponieren und nicht nur zu spielen und zu singen. Nun, mein lieber Peter, ich kann Dir vorab schon einmal versprechen, daß Du neben Deinen Pflichten Zeit für Deine eigene Arbeit finden würdest. Das kann ich Dir hoch und heilig zusichern. Und warum sollen wir Deine Kompositionen nicht mit unserem ausgezeichneten Chor in den Gottesdiensten ausprobieren, so daß die Gemeinde von St. Benedict Deine erste Zuhörerschaft ist?
Ich gehorche Deiner Mutter und unternehme keine weiteren Versuche, Dich in dieser Sache zu überreden. Wenn Du Deine ja immerhin königliche Stelle nicht aufgeben willst, dann verstehe ich das und komme nicht mehr darauf zurück. Du sollst nur wissen, wie sehr es mein Herz erfreuen würde, Dich wieder hier zu haben, zurückgekehrt zur Familie und tätig in den heiligen Mauern meiner Kirche.
Ansonsten will ich Dir noch Charlottes Verlobten, Mr. George Middleton, beschreiben. Er ist ein korpulenter Mann von freundlichem Naturell. Er liebt Charlotte abgöttisch und nennt sie »meine liebe Daisy« (warum, weiß ich nicht). Wenn er lacht,
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