Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
sich, ob es nicht besser wäre, gar nicht erst zu versuchen, Worte für sein Lied zu finden, sondern gleich ein paar Zeilen des großen Poeten in Musik umzusetzen:
Oh, wie ist Schönheit zweifach schön und hehr
Wenn sie der Wahrheit goldner Schmuck erhebt!
Die Ros’ ist lieblich, aber lieblicher
Macht sie der Wohlgeruch, der in ihr lebt.
Denn diese Worte drücken bestimmt – und zwar viel besser als alle seine eigenen – genau das aus, was ihm an Emilia Tilsen gefällt: daß sie zwar durchaus sehr hübsch ist, ihre eigentliche Magie und Faszination aber in ihrer Natur liegt, die in ihrer heiteren Gelassenheit auf diejenigen zurückstrahlt, die in ihr die Wesenszüge von sich selbst sehen, die sie am liebsten wahrnehmen möchten.
Während Peter Claire diese Gedanken durch den Kopf gehen, sitzt Emilia an Kirstens Bett.
Das perlenbestickte Satinkleid liegt über einem Stuhl. Auf Kirstens Kopf liegt eine Kompresse, und in ihrem vollen kastanienbraunen Haar klebt etwas dunkles Blut. Im Zimmer hängt der Duft von Rosenöl.
Kirsten hat sich nicht vom Leibarzt des Königs untersuchen lassen. Dieser hatte ihre Lebensgeister mit Salzen wiedergeweckt und wollte sich gerade ihre Kopfwunde ansehen, als sie ihn abwehrte und wegschickte. Sie erklärte ihm, bei der Hitze in der Halle und dem starken Geruch des gerösteten Schwans müsse jede empfindsame Frau ohnmächtig werden. Emilia legte ihrer Herrin die Kompresse auf und half ihr ins Bett. Kirsten blieb wach, bis sie den König herantreten sah, woraufhin sie auf der Stelle in einen tiefen Schlaf zu fallen schien.
Der König steht noch da und blickt auf seine Frau. Er weiß, daß er dem englischen Botschafter gegenüber unhöflich ist, weil er das Konzert aufhält, doch wenn Gott ihm nun Kirsten wieder nimmt, nachdem Er sie ihm gerade wiedergegeben zu haben schien? Wenn nun die Wunde tiefer ist, als es den Anschein hat, und ihr Schädel gebrochen ist? »Laß sie keinen Augenblick allein, Emilia!« ordnet er an. »Wenn dir ihr Schlaf zu fest oder anders als sonst vorkommt, schick einen Diener zu Doktor Sperling und einen anderen zu mir. Hast du mich verstanden?«
»Ja, Euer Majestät«, sagt Emilia und fügt hinzu: »Ich habe den Tod zu meiner Mutter kommen sehen, Sir. Ich möchte behaupten, daß ich ihn erkennen würde, wenn er irgendwo in der Nähe wäre. Ich glaube es aber nicht.«
Der König setzt sich mit seinem wuchtigen Körper auf Kirstens zarten Stuhl vor dem Frisiertisch. Er seufzt und streicht sich mit der Hand über die Augen, die verquollen und müde aussehen. »Ich habe einmal mit dem Tod gekämpft«, sagt er. »Vor langer Zeit. Ich sah ihn ins Zimmer kommen, ganz schwarz und mit einem Giftzahn wie eine Viper. Fast nahm er das Leben meines Jugendfreunds, doch ich bekämpfte ihn mit seiner eigenen Waffe, mit ebensolcher Tintenschwärze, und war an diesem Tag siegreich.«
Es ist König Christian klar, daß diese Geschichte für Emilia rätselhaft ist. Und kaum hat er sie erzählt, da tut es ihm auch schon leid, daß sie ihm überhaupt eingefallen ist. Die traurige Wahrheit ist, daß Christian alle Erinnerungen an Bror Brorson mit zunehmendem Alter immer bewußter machen, daß im Leben eines Menschen alles, was für ihn von Bedeutung ist, nach und nach verlorengehen kann und er, auch wenn er selbst glaubt, unaufhörlich Dinge anzuhäufen, in Wirklichkeit ständig etwas verliert. So befindet er sich, wenn er sich in der Mitte seines Lebens umschaut, zu seinem Verdruß und Erstaunen in einer grauen Wüste, in der keine Menschen am Horizont zu erkennen sind und doch der Boden voller Schatten ist.
Emilia blickt aus dem Fenster und stellt sich vor, wie die Musiker, darunter der Lautenspieler Peter Claire, jetzt in der Sonne auf der Bühne stehen. Sie zittert, als sie sein Gesicht und seine Stimme heraufbeschwört. Ihr fällt ein, daß nach Karens Tod und dem Auftauchen Magdalenas jeder Wunsch, den sie vielleicht einmal gehabt haben mochte, von einem Mann geliebt zu werden, so gänzlich von ihr abgefallen war, daß sie glaubte, er wäre für immer verschwunden. Doch als Emilia nun, an diesem Sommernachmittag, am Fenster steht, fragt sie sich: »Was ist für immer ?«
Und es ist die Stimme ihrer Mutter, die sie als Antwort auf diese Frage hört. »In dem Augenblick, in dem man es sich vorstellt«, sagt Karen, »bedeutet für immer die Ewigkeit. Erst später, vielleicht viel später – an einem Tag, den niemand vorhergesehen hat –, erscheint diese
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