Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
Dich leidenschaftlich geliebt habe. Vermutlich wirst Du das, ebenso wie die Tatsache, daß ich noch immer zurückschaue, wozu wir Frauen nun einmal sehr neigen, nicht besonders gern hören. Ich bitte Dich für diesen Fehler um Vergebung.
Francesca, Gräfin O’Fingal
PURPURNE FÄDEN
Johann Tilsen stellt fest, daß die Fliegen und anderen Insekten in diesem heißen Sommer in Jütland boshafter denn je zu sein scheinen. Sein Nacken ist geschwollen und rot, weil ihn dort in der Nacht eine Bremse in ein Blutgefäß gestochen hat, und das gräßliche Summen der Mücken scheint Teil eines plötzlichen Angstgefühls zu sein, für das er keine Erklärung hat.
Er liegt in dem schmalen Teil des Bettes, der ihm neben Magdalenas üppigem Körper bleibt, und hat sich die Arme schützend vors Gesicht gelegt. Die Mücken ergötzen sich an seinen Ellbogen, wo die Ärmel seines Sommernachthemds hochgerutscht sind. Er streicht Essig auf die Knoten, die sie dort hinterlassen (welche die rosagelbe Farbe einer Erdbeere vor der Reife haben), aber dennoch jucken sie fürchterlich. Und dann wird er auch noch, als er die Kisten mit schwarzen Johannisbeeren inspiziert, die nach Boller geschickt werden sollen, von einer Wespe in die Lippe gestochen.
Dieser Stich ist nun die endgültige Demütigung, weil er weiß, daß er dadurch häßlich aussieht. Er sagt zu Magdalena: »Ich werde verfolgt! Gott schickt mir Peiniger vom Himmel!«
Doch Magdalena ist weder sentimental noch abergläubisch. »Was für ein Baby du doch bist, Johann!« sagt sie. »Nichts als ein Baby mit all seinen Bedürfnissen und Wehwehchen!«
Der einzige Ort, wo die Insekten nicht hinkommen, ist das Seeufer. Dort baden an den heißen Nachmittagen die Knaben Ingmar, Wilhelm, Boris und Matti, und Magdalena sitzt in einer Laube, die Johann für sie aus Holz und Binsen gebaut hat, beobachtet sie, lächelt in sich hinein und stellt sich die Lektionen vor, die sie ihnen eines Tages heimlich erteilen wird.
Auch Marcus kommt an den See, schwimmt jedoch nicht, und Magdalena sieht ihn nicht an, und er sieht Magdalena nicht an. Er verbringt seine ganze Zeit damit, ins seichte Wasser zu blicken.
Manchmal fängt Marcus mit den Händen Elritzen und untersucht ihre silbrigen Körper einen Augenblick, bevor er sie ins Wasser zurückwirft. Er sieht Frösche und eine schwarze Wasserschlange, die er in die Enge zu treiben versucht. Die Schlange fasziniert ihn, als sei sie ein Bote wie jener, der aus Kopenhagen zu ihm geschickt worden war. Er stellt sich vor, wie diese dünne Schlange den Spalt zwischen Magdalenas Brüsten hinuntergleitet und sie in den Magen beißt. Marcus Tilsen meint immer, alle Tiere des Sees wollen mit ihm sprechen und auf seine Befehle lauschen. Er zählt sie und flüstert so leise mit ihnen, daß es niemand sonst hören kann.
Und dann, eines Nachmittags, als Ingmar und die anderen Knaben weit hinaus zu einer kleinen Insel schwimmen, wo Weiden eine dunkle Höhle unter ihren hängenden Zweigen bilden, und Marcus einem Kaulquappenschwarm vorsingt und sich diesen als einen Haufen Noten vorstellt, fängt Magdalena plötzlich zu schreien an. Ihr Körper wird in der Laube zunächst steif und dann schlaff. Auf ihrem Gesicht liegt ein Ausdruck des Erstaunens.
Marcus starrt sie an. Er hofft, daß sie gleich ganz still daliegt. Emilia hat ihm vor langer Zeit einmal erzählt, daß Menschen in Sekundenschnelle sterben können, in der Zeit, in der man gerade mal bis zwei zählen kann. Danach kann man nur noch ein Loch in die Erde graben und sie hineinlegen. Marcus überlegt, daß man für Magdalena ein sehr großes und tiefes Loch graben müßte. Es wäre schrecklich, wenn Teile Magdalenas – eine Hand oder ein Rockzipfel – herausschauen würden, wenn sie doch in ihrem Loch sein sollten. Der Boden der Obstfelder ist aber weich, so daß das Graben nicht allzu schwierig sein dürfte, und im nächsten Jahr könnte man dann über ihr Stachelbeeren anpflanzen, und niemand wüßte noch, wo sie war, ja nicht einmal, daß es sie je gegeben hatte.
Magdalena ruft nach ihm, doch er hat es nicht gehört. Er dreht sich um, blickt über den See und sieht, daß seine Brüder auf der Insel angekommen sind und unter den Weidenhöhlen aus dem Wasser klettern. Auch sie haben ihr Rufen nicht gehört. Magdalenas Gesicht ist jetzt purpurrot, und sie greift sich an den Bauch und schreit wieder. Sie sitzt nun nicht mehr auf ihrem kleinen Stuhl, sondern liegt zwischen den Binsen auf dem Boden der
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