Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
Laube. Ihre Beine zucken.
»Marcus!« schreit sie. »Marcus!«
Jetzt, denkt er, jetzt würde ich diese schwarze Schlange, wenn ich sie hätte, dorthin tragen, ihr über den Kopf streichen und sie auf Magdalena legen, und sie würde in ihrer Kleidung verschwinden wie eine Spur nassen Rußes, und dann würde sie bestimmt gleich zu schreien aufhören und still sein – so wie sie es so oft zu mir sagt, wenn mir mein Geschirr angelegt oder Otto in die kalte Nacht hinausgeworfen wird
» MARCUS !«
Wo sie liegt, sind die Binsen feucht, genau so wie oft sein Bett im Dunkeln oder tagsüber, wenn er dort allein in seinem Geschirr liegt, das quietscht und ächzt.
» MARCUS !«
Er schaut wieder zu der Insel hinüber, kann aber keinen seiner Brüder entdecken. Sie sind zwischen den Bäumen verschwunden. Er beginnt zu zählen. Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht, neun … Vielleicht dauert das Sterben ja manchmal auch eine Weile, und wahrscheinlich kann man noch schnell auf die Binsen pissen und schreien, bevor es passiert. Zehn, elf, zwölf, dreizehn, vierzehn, fünfzehn … Doch Magdalena sieht nun, als sie so auf den feuchten Binsen liegt, die Beine hochgestreckt, das Gesicht purpurrot angelaufen und die Augen verquollene Schlitze, so schrecklich aus, daß es Marcus nicht mehr ertragen kann, sie anzuschauen.
Er planscht aus dem seichten Wasser heraus und beginnt zu rennen. Ohne auf Magdalena zu blicken, läuft er dicht an der Laube vorbei. Er kann auch ohne Schuhe schnell rennen, weil er so leicht wie der Wind ist.
Er versteckt sich in den Ställen.
Sein Kopf füllt sich mit Zählen.
Das braune Pony schlägt mit dem Schwanz nach den Fliegen, und Marcus lehnt sich an seinen Hals. Das Stroh kratzt an seinen nackten Füßen.
Der Geruch der Ställe ist so herrlich, daß Marcus wünscht, er könne hier schlafen statt in seinem Zimmer, wo es in den Ecken immer dunkel ist und der Gestank seines Bettes nach feuchter Wolle in ihm den Wunsch weckt, zum Fenster hinauszufliegen und bei den Eulen unter den Sternen und dem Mond zu sein.
Als er aufwacht, weiß er, daß jetzt vorbei ist, was immer Magdalena passiert ist, weil er das Gefühl hat, daß etwas beendet ist. Ob vielleicht Johann zum See gekommen ist und Ingmar und Wilhelm nun das Loch in die weiche Erde graben und Magdalena hineinlegen, ohne daß etwas herausschaut oder -ragt? Vielleicht gibt es, wenn Magdalena begraben und weg ist, kein Geschirr mehr, schläft Otto bei ihm im Bett und kommt Emilia nach Hause?
Langsam, von Baum zu Baum und Hecke zu Hecke huschend, kehrt Marcus zum See zurück. Er macht auf dem moosigen Weg kein Geräusch und steht dann neben der Laube wie ein Geist, den niemand sieht.
Magdalena ist nicht mehr in der Laube, wo Blut auf den Binsen glänzt. Sie geht zum See hinunter, auf der einen Seite Johann und auf der anderen eine alte Frau, die Marcus noch nie zuvor gesehen hat. Sie stützen Magdalena. Ihre Röcke sind ihr um die Taille hochgebunden, ihr Hintern und ihre Beine sind bloß und feucht von Blut.
Sie wird ins Wasser geführt. Als das kühle Wasser um ihren Körper schlägt, entringt sich ihr eine Art Stöhnen.
Marcus verdrückt sich im Schatten der Laube, weil jetzt die Sonne über den Eichen und Kiefern hinter ihm zu glühen beginnt. Er versucht sich so klein wie eine Libelle zu machen.
Magdalena ist jetzt tiefer im Wasser, so daß ihre Beine bedeckt sind, und Johann und die alte Tante tauchen sie behutsam in eine Kauerstellung. Marcus sieht, wie sie sich anstrengt, als verrichte sie direkt dort, wo die silbernen Elritzen und Frösche immer so gern spielen, ihr Geschäft. Sie klammert sich an ihre Helfer, während die alte Frau mit dem Arm ins Wasser greift und sich plötzlich abzumühen, zu ziehen und reißen scheint, als wolle sie einen riesigen Haufen aus Magdalena herausholen, und Magdalena schreit wieder so wie vorher in der Laube.
Sie ist nicht tot. Sie lacht und weint zugleich. Dann legt sie sich im Wasser auf den Rücken und läßt sich von ihm tragen, und Johann und die Frau waschen ihr die Beine und den Bauch und die Stelle zwischen ihren Beinen, wo das Ding aus ihr herausgekommen ist. Man kann sehen, daß alle drei jetzt glücklich sind, glücklich in dem See mit der untergehenden Sonne und Magdalenas Röcken, deren Verknotung aufgegangen ist, so daß sie sich auf dem Wasser blähen. Johann küßt Magdalena mit seinen noch vom Wespenstich geschwollenen Lippen, und die alte Tante biegt sich vor
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