Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
Freien beschäftigt waren oder aber – an diesen letzten Sommertagen – beide vor kleinen Staffeleien kauerten und versuchten, Blumen zu malen. Emilias Blumenbild hat ihn so tief bewegt, daß er es kaum ertragen kann, daran zu denken.
Er wählt einen Tag, an dem sie mit gerunzelter Stirn angesichts der Schwierigkeit ihrer Aufgabe an den Staffeleien sind, und steigt die Treppe zu Emilias Gang hoch. Diesen geht er dann auf Zehenspitzen entlang, wobei er hofft, daß ihn niemand sieht, und bleibt vor ihrer Tür stehen. Er hört keine Stimmen oder Geräusche, abgesehen von einem im Hof bellenden Hund und ein paar Tauben, die jetzt, als die Sonne allmählich nicht mehr so heiß brennt und hinter dem Westturm des Palastes untergeht, von Türmchen zu Türmchen flattern.
Als er gerade das Päckchen mit den Bändern vor Emilias Tür legen will, hört er noch ein anderes Geräusch, dessen Deutung ihm nach den vielen Stunden im Keller nicht allzu schwer fällt: Er hört drinnen eine Henne.
Peter Claire sagt sich, daß er die Zimmer verwechselt haben muß, ist sich aber nicht im klaren, ob nun Emilias Zimmer das rechte oder linke davon ist, und klopft deshalb vorsichtig an. Als er keine Antwort erhält (nur weiterhin das Glucksen der Henne hört, das für ihn immer so klingt, als wären diese Tiere ständig drauf und dran, in einen zufriedenen Schlaf zu fallen), öffnet er die Tür und geht hinein.
Es ist ein schlichtes, karges Zimmer – nicht viel anders als seine eigene, spärlich eingerichtete Kammer über den Ställen –, doch an der Schranktür hängt ein graues Kleid, das er schon an Emilia gesehen hat, und auf dem kleinen Frisiertisch stehen all die simplen Attribute der Eitelkeit, die jedes junge Mädchen zu besitzen trachtet: ein Spiegel und eine Haarbürste aus Silber, ein Stück spanische Seife, eine Flasche Orangenblütenwasser und eine Porzellanschale, in der zwei oder drei Silbernadeln und -broschen liegen.
Auf dem schmalen, ordentlichen Bett liegt ein kleines Samtkissen, und auf diesem sieht Peter Claire nun wie in einem Nest ein gesprenkeltes Huhn sitzen, das ihn nervös anblinzelt. In der hintersten Ecke des Zimmers bemerkt er einen Haufen sauberes Stroh und eine Schüssel Wasser. Ein paar weiße Flaumfedern sind wie Distelwolle über dem Boden verstreut.
Peter Claire schließt die Tür hinter sich und erlaubt sich nun, den Ort, wo Emilia schläft und träumt und ihre privaten Augenblicke des Waschens und Ankleidens hat, in sich aufzunehmen. Er steht ganz still da.
Er muß über die Anwesenheit des Huhns zwar lächeln, doch trägt diese noch zu dem in ihm aufsteigenden Gefühl des Entzückens bei. Es ist im Zimmer warm von der späten Nachmittagssonne, und Peter Claire würde sich am liebsten keinen Schritt mehr von der Stelle bewegen. In ebendieser Luft, im Schutz des grauen Kleides, in der Ruhe der Frisierkommode und sogar der tonlosen Musik der Henne scheint jenes eine Element zu liegen (das weder Substanz noch eine konkrete Form hat), nach dem sich der Mensch immer sehnt und das er so selten findet: das Glück.
Peter Claire weiß nicht, wie lange er schon in Emilias Zimmer ist. Er zwingt sich schließlich zum Gehen, legt sein Geschenk vor die Tür und kehrt in die andere Welt zurück, wo der Tag lärmend zu Ende geht und es zu dämmern beginnt und die Palastköche das Abendessen vorbereiten.
In jener Nacht kommt Emilia nicht mehr in ihr Zimmer. Kirsten fühlt sich unruhig und elend und möchte, daß sie in ihrer Nähe, in der Kammer nebenan, schläft. In den frühen Morgenstunden wird sie von Kirstens Schreien geweckt, die von Alpträumen herrühren, die, wie sie erzählt, »schlimmer sind als alle, die ich je gehabt habe«.
Sie läßt sich von Emilia ein Brechmittel zubereiten. »Auf diese widerwärtige Weise«, sagt sie, »holen wir die Schrecken aus mir heraus.«
Emilia mischt die Pulver nach Anweisung, und Kirsten umklammert beim Würgen in die von Emilia gehaltene Schüssel deren Arm und weint. »Oh, riech doch meine Angst!« jammert sie. »Bring es weg, Emilia! Ich bin ganz vergiftet von der Angst!«
Es wird eine lange Nacht. Emilia hat Kopfschmerzen, als die ersten Sonnenstrahlen durch Kirstens Fenster fallen. Da sie nun ihre Herrin endlich friedlich schlafen sieht und Johanna, die Frau für den Kopf, hereinkommt, um die Kämme und Nadeln für Kirstens Haar und die weiße Schminke für ihre blassen Wangen bereitzulegen, entschwindet Emilia in die Stille ihres oberen Zimmers und zu
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