Melodie des Südens
davon verstanden.
Als sie mit dem zusammenziehenden Hamamelis kam, legte sie eine Hand auf die Bauchwunde. Schon jetzt begann die Wunde anzuschwellen und lief blaurot an. Sylvie brauchte einen Arzt, noch mehr als Peter.
Der alte Dr. Benet wäre sicher gekommen, um nach dem Kind zu sehen, aber er war schon vor Jahren gestorben. Sein Nachfolger Dr. Clark hatte wissen lassen, er habe keine Zeit, um Sklaven zu behandeln. Jedenfalls nicht mehr. Der Eid des Hippokrates und seine politischen Überzeugungen lebten in schönster Eintracht in seiner Brust. Er war ein strikter Verfechter der Meinung, jeder Bundesstaat könne seinen Weg selbst wählen und die Sklaverei sei nun einmal das Erbe und die Zukunft des Staates Louisiana. Für diejenigen, die über ihr Joch stöhnten und jammerten, hatte er wenig Verständnis.
Marcel Chamard war auf einmal neben ihr und half ihr auf die Beine. »Auf ein Wort, Miss Johnston.«
Er begleitete sie auf die dunkle Veranda, wo die Mücken summten.
»Ich sehe, dass Sie eine erfahrene Krankenschwester sind«, sagte er, »aber die Verletzungen dieses Kindes sind doch wohl sehr ernst, nicht wahr?«
»Ja.« Sie wartete. Was wollte er hier in den Sklavenunterkünften? Diese Chamards hatten offenbar nichts Besseres zu tun, als überall herumzulaufen. Sie wollte gerade wieder in die Hütte gehen, als er ihren Arm berührte.
»Ich kenne einen Arzt. Er hat in Paris studiert. Er kommt, wenn ich ihn holen lasse.«
»Sie kennen einen Arzt, der Sklaven behandelt?«
»Seine Mutter war früher selbst Sklavin. Gabriel Chamard.«
Das Kind der Liebe, Frucht der berühmten Liebesaffäre zwischen Bertrand Chamard und der gefeierten Sängerin? »Ihr …«
»Mein Halbbruder, ganz recht. Er ist im Haus seiner Mutter in der Nähe von Toulouse, ich fahre selbst hin und hole ihn.«
Marianne legte eine Hand auf seinen Ärmel. »Vielen Dank, Mr Chamard. Und sagen Sie ihm, er soll sich beeilen.«
Gabriel lag in seinem Bett in Chateau Chanson, als er von Schritten geweckt wurde. Das war weder Bens Geschlurfe noch hörte es sich nach Claires Schritten in ihren Pantoffeln an. Wie lange war die Pistole in seinem Nachttisch nicht mehr abgefeuert worden? Aber sie konnte immerhin zur Abschreckung dienen, der Eindringling wusste ja nicht, dass sie nicht geladen war.
Gabriel stand auf und lauschte. Die Schritte erreichten seine Schlafzimmertür, und der Türknauf wurde herumgedreht. Als die Tür sich öffnete und eine hochgewachsene Gestalt hereinkam, hob er die Pistole.
»Gabriel?«
»Marcel!« Er legte die Pistole zurück in die Schublade. »Wer sich so ins Schlafzimmer eines anderen Mannes schleicht, könnte leicht mit einer Kugel im Kopf enden.«
»Ich wollte die beiden alten Leutchen nicht wecken. Du wirst auf der anderen Flussseite gebraucht, Gabriel, auf der Plantage der Johnstons.«
Gabriel zog sich an, und Marcel erklärte ihm währenddessen, was geschehen war. Fünf Minuten, dann waren die beiden abmarschbereit.
»Ich habe das Boot am Anleger von Toulouse festgemacht.«
»Gut.« Gabriel nahm seine Tasche.
Das Haupthaus war dunkel. Gabriel blickte zu Simones Fenster hinauf. Was sollte nur werden? Sie waren aneinander gebunden, aber …
»Hier entlang«, sagte Marcel.
Der Fluss mit seiner reißenden Strömung wurde nur von einer schmalen Mondsichel beleuchtet. Vier Männer, schwarz wie die Nacht, warteten im Boot, um sie hinüberzurudern. Gabriel stieg ins Boot und spürte mit Entsetzen das Schaukeln unter seinen Füßen. Auf den großen Dampfern, wo man auf dem Oberdeck stehen und das Wasser aus sicherer Entfernung betrachten konnte, war die Fahrt auf dem Fluss erträglich, aber diese kleinen Boote hatte er immer gehasst. Diese Dinger, bei denen das Wasser bis an die Ruderdollen stand. Er wusste, dass seine Angst irrational war. Er konnte ausgezeichnet schwimmen, tat es aber nur in den verschlafenen sumpfigen Seen oder in einer geschützten Bucht des Flusses, wo eine Sandbank die Strömung fernhielt. Die wechselnden Strömungen des Flusses mit einem so kleinen Boot zu überqueren, noch dazu im Dunkeln – ihm brach auf der Stelle der kalte Schweiß aus.
Er versuchte, an etwas anderes zu denken. Nicht an Simone. Wenn er anfing, seinem Herz die Zügel schießen zu lassen, wäre er nicht mehr imstande, irgendjemandem zu helfen. Seine Zukunft, darüber konnte er gut nachdenken, um sich abzulenken. Wenn er Geld verdienen wollte, musste er sich an die wohlhabenden Patienten in New Orleans halten, im
Weitere Kostenlose Bücher