Melville
dir denn? Hast du Kraft für einen kleinen Ausflug?“, frage
ich. Er sieht mich überrascht an.
„Ein
Ausflug? Wohin denn?“.
„Erinnerst
du dich an die Küste in Portishead? Wir sind da ein paar Mal
hingefahren, nachdem du endlich deinen Führerschein hattest. Nach
dem dritten Versuch.“ und lache selbst etwas.
„Natürlich
erinnere ich mich. Da bin ich auch ab und zu mit Freundinnen
hingefahren, um sie zu beeindrucken. Willst du da mit mir hin?“.
„Es
ist ja nur eine halbe Stunde weit weg und die Promenade ist
asphaltiert, ein Rollstuhl wäre kein Problem.“. Auch wenn er etwas
zerknirscht über den Rollstuhl wirkt, sagt er
„Das
wäre toll, auch wenn es dunkel ist. Das Rauschen des Wassers und die
Sterne.“.
„Heute
ist Vollmond, da ist der Horizont nicht ganz so finster. Also ja?“.
„Ja.“,
sagt er inbrünstig und seine Augen leuchten etwas. Ich lasse sofort
die nötigen Vorbereitungen treffen und natürlich wird er auch seine
Schmerzmittelpumpe mitnehmen dürfen. Er soll möglichst ohne Krämpfe
diesen Augenblick genießen können.
Ein
Sanitäter begleitet uns, ich bezahle ihn fürstlich für diese
Leistung, sicher mehr, als er in einem Monat verdient. Er ist es
auch, der uns einen geeigneten Wagen organisieren und Jonathan
fachmännisch heben kann. Und sollte irgendetwas Unerwartetes
passieren, kann er notfalls eingreifen. Und bereits eine Stunde
später sehen wir beide die Küstenlinie von Portishead, eine kleine
Stadt an der Meerenge der Nordsee, dem Bristol Kanal.
„Ich
hätte ja nicht geglaubt, das noch einmal sehen zu dürfen.“ und
Jonathan deutet auf das Wasser, während er aus dem Wagen gehoben und
in den Rollstuhl gesetzt wird.
„Du
kannst dir echt ein Sternchen in dein Samariter-Buch kleben,
Melville.“, sagt er weiter.
„Sag
so etwas nicht, Jonathan. Sonst überlege ich es mir vielleicht doch
noch anders.“.
„Nimm
doch Lob mal an, auch wenn nur ich es bin.“. Ich antworte darauf
nicht, sage dem Sanitäter, er soll im Wagen warten und greife dann
schließlich nach den Griffen am Rollstuhl. Ich fahre mit Jonathan
weiter und mehrere hundert Meter schweigen wir beide und genießen
jeder für sich die Aussicht.
„Du
bist mir eine Zeitlang ziemlich auf den Sack gegangen.“, sagt er
unerwartet.
„Ich?
Warum?“.
„Ich
fand es sehr mies von dir, dass du ausgerechnet an die Universität
von Bristol gegangen bist. Du hättest nun ja auch echt nach
Cambridge oder so gehen können. Aber nein, mein oberschlauer und
auch noch jüngerer Bruder kommt an meine Uni und zeigt allen, wie
dumm ich bin und wie intelligent er. War nicht so einfach, dauernd
von den Profs ermahnt zu werden, sich eine Scheibe von dir
abzuschneiden.“.
„Ich
wurde oft von den anderen Studenten darauf hingewiesen, wie toll du
bist und was ich doch für ein Lebensversager bin, der keine Freizeit
kennt. Manche, die spät begriffen haben, dass wir Brüder sind,
haben nachgefragt, ob ich vielleicht adoptiert bin.“. Er lacht kurz
leise. Der Wind ist kalt und Jonathan zieht seinen Schal enger um
sich.
„Ist
es zu frisch?“, frage ich.
„Ich
habe Krebs und nicht Versage-ritis. Geht schon.“. An einer Bank,
die Aussicht auf das Meer bietet, halte ich schließlich an. Ich
rolle ihn neben die Bank und setze mich zu ihm.
„Da
wären wir.“, sage ich etwas in Gedanken.
„Ich
bin froh, dass ich kein Einzelkind bin.“, sagt er.
„Warum?“.
„Mit
Vater allein in dem großen Haus? Ich wäre damals vor Langeweile
gestorben.“.
„Sehr
viel haben wir aber nicht zusammen unternommen.“, antworte ich.
„Du
erinnerst dich vielleicht nicht so sehr an die ersten Jahre nach
Mutters Tod, aber als dein großer Bruder war ich für dich da... und
du irgendwie auch für mich. Und du warst ganz toll im Verstecken
spielen. Auch wenn es später vielleicht ein wenig rau zwischen uns
wurde, bin ich trotzdem froh.“.
„Na
dann.“, sage ich nüchtern, weiter in Gedanken hängend.
„Du
warst nicht auf Vaters Beerdigung.“. Diese Feststellung kommt aus
dem Nichts und kurz sehe ich ihn an, nur um dann wieder schweigend
auf das Meer zu blicken. Nach einer ganze Weile antworte ich
„Ich
wollte niemanden mit meinem Dauergrinsen beleidigen.“.
„Das
war fies.“.
„Aber
ehrlich.“.
„Wirst
du zu meiner Beerdigung kommen?“. Ich senke mein Gesicht und nur
schwer kann ich den Anflug von Trauer unterbinden.
„Ja.“.
„Gut.“.
Und mehr Worte müssen wir über dieses Thema nicht verlieren.
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