Melville
Familienangehörigen betrachte, weiß ich mit
Gewissheit, dass ich niemals bei ihnen liegen werde. Ich werde
niemals Teil dieses betrübenden Areals sein, aber auch niemals an
ihrer Seite liegen. Ich werde Staub und dann vergessen. Ich habe es
so ausgewählt.
Ich
erhebe mich wieder, werfe einen letzten Blick auf die kleine Wiese,
die etwas abseits der verwundenen Wege liegt, und schreite dann
zurück und lasse dies alles endgültig hinter mir. Jetzt gibt es nur
noch mich und ich werde das Beste daraus machen.
Neue Heimat
Zehn
Nächte war ich insgesamt fort. Ich habe Liam beauftragt, seine
Geschäfte in dieser Zeit von zuhause aus zu führen. Ich habe weder
Besuche von Frau von Harbing noch jemand anderen gestattet. Er war
also zehn Nächte allein in meinem Haus. Vor meiner Abreise haben wir
nicht noch einmal über den Zwischenfall gesprochen. Wie hätte ich
auch eine vernünftige Meinung dazu haben sollen, wenn mir Jonathan
immer im Kopf rum spukt? Doch jetzt, kurz vor der Landung im
nächtlichen Frankfurt, weiß ich, dass der Besuch wichtig war. Auch
wenn es eine sehr verletzende und nervenaufreibende Erfahrung war, so
machen es mir jetzt Jonathans Worte leichter, über meine
Vergangenheit hinwegzukommen. Die Tatsache, dass ich Jonathan
mitverantwortlich gemacht habe, wo wir beide doch anscheinend Opfer
des gleichen Problems wurden. Jeder auf seine Weise und mit seinem
Schrei nach Hilfe. Mein Vater konnte und wollte uns nicht
gleichberechtigt behandeln und das Gefühl der eigenen
Geringschätzung liegt schwer auf meinem Gemüt. Und trotzdem weiß
ich innerlich ganz fest, dass ich es brauche. Wärme, Zuneigung, eine
Familie. Ich habe den Wechsel zu einem vollkommen gefühlstauben
Wesen nicht geschafft, weil ich mich von der Sehnsucht nach
Geborgenheit nicht trennen kann. Und das wird sich nie ändern. Das
weiß ich jetzt.
Ich
erkenne die Skyline von Frankfurt, gleich wird die Maschine zur
Landung ansetzen. Liam wird mich am Ausgang abholen, wie soll ich
reagieren? Eigentlich weiß ich bereits, dass mein Plan, ihn
möglichst kalt und rachsüchtig zu formen, gescheitert ist. Und zwar
scheiterte er nicht an ihm, sondern an mir. Aber ist es verkehrt?
Nun, da ich nicht mehr danach strebe, alle meine Gefühle zu töten,
damit ich nicht mehr unter ihnen leide, kann ich versuchen Liam eine
leicht abgewandelte Form meiner Ansichten zu lehren. Ich bleibe bei
meiner Meinung, dass die Moral der Menschen nichts für mich ist,
aber dennoch gibt es in dieser Art der Weltanschauung auch noch Platz
für Vertrauen und Zusammenhalt. Und wenn ich so an Benedict, Andrew
und nun auch Jonathan denke, weiß ich, dass sie alle nur wichtig für
mich sind und waren, weil sie selbst auch Zuneigung für mich
empfunden haben, obwohl ich bewusst nichts für diese Emotion
geleistet habe. Ich musste nicht dafür kämpfen von ihnen gemocht zu
werden. Von mehr mag mein gekränktes Herz gerade nicht zu träumen
wagen.
Die
Schiebetür öffnet sich, einige Menschen warten am nächsten Ausgang
auf ihre Geliebten und Verwandten aus den anderen Flugzeugen. Und
sofort fällt Liam mir ins Auge. Wie er in der Nähe des Ausgangs für
normale Passagiere steht und kurz bin ich genervt davon, dass
Privatflieger wie ich dennoch durch diese Hallen müssen. Es ist fast
wie Tag und Nacht. Der Unterschied zwischen diesem smarten, eleganten
Geschäftsmann im besten Anzug, mit leicht traurigen aber suchenden
Augen und die ihn umgebenden, pickligen, teils übergewichtigen
schwitzenden Sethkinder. Sie schießen Fotos, haben Blumen in der
Hand und unterhalten sich aufgeregt, während er wie versteinert
dasteht. Er wirkt etwas verloren, so umringt wie er von ihnen ist.
Ich muss kurz lächeln bei dem Anblick. Dann erkennt er mich. Und
beim Anblick meines lächelnden Gesichtes und meiner Augen auf ihm,
beginnt auch er seine etwas wächserne Mimik aufzuhellen. Dennoch
weiß ich immer noch nicht, wie ich ihn gleich begrüßen soll. Meine
Gefühle zu ihm sind gerade ziemlich ambivalent.
„Guten
Abend, Liam, schön, dass du da bist.”. Er sieht mich etwas
irritiert an.
„Guten
Abend, Herr Lancaster.” und betrachtet mich dann. Es muss ihm
auffallen, dass die kurze Reise mich optisch verändert hat.
Ich
habe keinen Koffer dabei, den lasse ich natürlich direkt nach Hause
liefern und mein Butler wird ihn dann entgegennehmen. So trage ich
nur einen Mantel über meinem Arm, obwohl mir die Außentemperaturen
ziemlich egal sein können, doch um den Menschen ähnlich
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