Melville
Eine
ganze Weile sitzen wir so da, betrachten die Küste und ich fühle,
wie er nach meiner Hand greift. Seine Hände sind fast kälter als
meine und ich entziehe mich nicht aus dieser Nähe. Ich fühle nur
kurz, wie seine Hand sich etwas verkrampft, er sie aber nicht
wegnimmt. Dann folgt das dumpfe mechanische Geräusch seiner
Medikamentenpumpe und seine Hand wird langsam wieder entspannter. Ein
furchtbarer Moment, liebevoll und gleichzeitig abstoßend.
Nach
zwei Stunden bittet Jonathan mich schließlich wieder zurückzufahren.
Ihm ist bestimmt sehr kalt und auch seine Müdigkeit dürfte Einfluss
auf seine Bitte haben. Und natürlich komme ich dem nach und nur eine
knappe dreiviertel Stunde später, liegt er wieder in seinem
Krankenbett und lächelt mich an.
„Ich
weiß das wirklich zu schätzen, Melville. Komm her.“. Ich beuge
mich zu ihm und er umarmt mich. Ich schließe die Augen und versuche
krampfhaft nicht zu weinen. Wenn er sehen würde, was da aus meinen
Augen tropft, nein, reiß dich zusammen!
„Wir
sehen uns Übermorgen, großer Bruder.“.
„Gib
deiner Frau einen Kuss von mir.“.
„Das
werde ich. Jetzt ruh dich aus.“. Und seine Augenlider schließen
sich bereits zum Schlafen und ich wende mich Richtung Ausgang.
Morgen
werde ich so tun müssen, als ob ich nichts Wichtigeres kennen würde
als die Finanzen des Frankfurter Ventrueclans. Ich hoffe, ich kann
dieses Schauspiel meistern.
Ich
plane nicht einmal einen Aufenthalt in meinem Haus ein. Ein Flug und
eine Taxifahrt in mein Clanshaus und danach direkt wieder zu einem
anderen Flughafen, der einen so späten Flug ermöglicht. So kann ich
in Bristol übertagen und so früh wie möglich wieder im Krankenhaus
sein.
Kaum
betrete ich die Hallen des ehrwürdigen Clanshauses, überkommen mich
wieder die antrainierten Reflexe und Ausdrucksweisen. Ich schirme
meine Gefühlswelt vollkommen ab und schaffe es sogar, einigermaßen
sinnvolle Kommentare abzugeben. Obwohl ich annahm, dass sich Frau
Mühlbach mit mir allein treffen würde, ist es eher ein
Gruppentreffen aller finanzlastigen Ventrue der Domäne. Nur ein paar
Aussagen werden von mir erwarten und die restliche Zeit sitze ich
stumm bei und lausche anderen, die schon länger Mitglied von
Frankfurt sind.
In
der Mitte der Nacht bereue ich meine Anreise, denn eigentlich diente
sie nur der Überprüfung meiner Prioritäten, nichts weiter. Ich
habe keinen wirklichen Einfluss mit meiner Anwesenheit und Frau
Mühlbach selbst nickt mir auch nur kurz zu, als Zeichen, dass sie
meine Präsenz wahrgenommen hat.
Und
nach dieser doch enttäuschenden Verpflichtung, begebe ich mich auf
die Reise, zurück zu Jonathan. Ich weiß nicht einmal, wie lange das
noch so gehen soll. Aber ich bin bereit, begründet durch die doch
kurze Anreise, eine ganze Weile so in zwei Städten zu agieren. Ich
will Jonathan nicht nach Deutschland holen, nicht in die Nähe von
Untoten, die mich kennen.
Ich
erhebe mich aus meinem Zwangsschlaf und wieder fällt mir sofort das
Leuchten meines Telefons auf. Diesmal wurde sogar eine
Sprachnachricht hinterlassen. Und kaum habe ich die Information
erfasst, springe ich aus dem Bett, schmeiße mich unkontrolliert in
Kleidung und stürme sofort runter Richtung Taxistand. Es gab
Komplikationen mit Jonathan und das bereits vor sechs Stunden,
während ich noch scheintot im Hotelbett lag. Ich weise den Fahrer
an, schneller zu fahren und kaum vor Ort, renne ich die Treppen zur
Onkologie Station hinauf. Der Fahrstuhl wäre jetzt zu langsam. Ich
höre noch, wie eine Schwester nach mir ruft, um mich aufzuhalten,
doch ich reiße die Zimmertür auf.
Das
Bett ist leer und abgezogen.
„Mr
Lancaster, so warten Sie doch…“, höre ich sie wieder sagen. Es
ist Schwester Beatrice, die, die Jonathan so nett findet.
„Wo
ist er?“, frage ich fast schon drohend. Sie greift nach meinem Arm
und legt einen ganz schwermütigen Blick auf. Ich entreiße ihn ihr
sofort wieder und schreie
„Wo?“.
„Er
ist vor einigen Stunden eingeschlafen und nicht mehr aufgewacht, es
tut mir leid.“.
„Ich
will ihn sehen! Sofort!“.
„Aber,
Mr Lancaster, er liegt jetzt in der Pathologie, wollen Sie sich das
wirklich antun?“.
„Welche
Etage?“, raune ich nur zurück und gehe bereits wieder aus dem
Zimmer.
„Ich
muss Sie ankündigen.“, sagt sie und verschwindet kurz im
Schwesternzimmer. Ich will es nicht wahrhaben… mein Clan hat mich
um die letzte Nacht mit ihm gebracht, ich könnte…
„Fahren
Sie mit
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