Melville
dem Fahrstuhl in das erste Untergeschoss, ein Pfleger wird
Sie dann weiterbegleiten.“. Ich sage kein Wort, sondern marschiere
nur Richtung Fahrstuhl und hämmere auf den Knopf. Ich gehe in diesem
kleinen metallenen Käfig auf und ab, unfähig Ruhe zu bewahren. Die
Tür öffnet sich und ich sehe einen Mann mit grünen Hosen und einem
grünen Oberteil.
„Mr
Lancaster?“, fragt er nur und ich nicke unwirsch.
„Hier
entlang, bitte.“.
Ich
folge ihm, aber er geht mir deutlich zu langsam. Ich habe die Hände
in meinen Taschen und balle sie immer wieder zu Fäusten, um ihn
nicht wütend anzuschreien, er solle schneller gehen.
Ich
trete in den gefliesten großen Raum, die Metallschränke an der Wand
mit den typischen Griffen, hinter denen die Leichen des Krankhauses
liegen. Ein Arzt steht etwas abseits und ich sehe auch eine weitere
Mitarbeiterin in der Ecke, die auf einem Stuhl sitzt und mich
ansieht.
Auf
einem Metalltisch, neben dem der Arzt steht, sehe ich einen Körper,
verhüllt von einem großen weißen Tuch. Deutlich erkenne ich die
Silhouette seines eingefallen Leibes und meine innere Anspannung
steigt ins Unermessliche. Ich will nicht, dass die Leute anwesend
sind, während ich meinen Bruder ein letztes Mal sehe. Ich fühle,
wie sich alles in mir zusammenzieht und mein Blut sich in Bewegung
setzt. Und mit mir ungeahnten Kräften wirke ich plötzlich auf alle
ein, ohne, dass sie auch nur eine Chance hätten, sich zu wehren.
Fühle, wie die Macht aus mir pulsiert und sich um den Verstand jedes
Einzelnen wickelt und ihren Willen in die Knie zwingt.
„Verlassen
Sie den Raum. Alle!“, sage ich laut. Und einem König gegenüber
gleich, verbeugen sie sich demütig und verlassen augenblicklich das
Zimmer. Ich schenke dieser neuerlichen Begabung keine Aufmerksamkeit,
sondern trete nur an den Seziertisch heran.
Ganz
zögerlich greife ich nach dem Tuch und lege es zurück. Da sehe ich
sein Gesicht, wie er friedlich daliegt, als würde er schlafen. Seine
Haare sind etwas zerwühlt und ich fahre durch sie, um sie zu ordnen.
Und kaum berührt ihn meine Hand, fallen die Tränen schwer herunter,
färben das Tuch und mein Hemd rot. Ein letztes Mal spreche ich
seinen Namen laut aus, schluchzend und fast widerwillig akzeptierend
„Jonathan…“.
Ich
nehme ihn in den Arm, spüre seine unnatürliche Kälte und begreife
langsam, dass er nicht zurückkommen wird. Ich verfluche die Jahre,
in denen ich ihn ausgeblendet habe und den ganzen Zorn, den ich immer
für ihn empfand.
Mein
Bruder ist tot.
Keine
offizielle Beerdigung, ich wusste nicht, wen ich einladen sollte und
ich hätte tagsüber nicht teilnehmen können. Ich sorge dafür, dass
er zu den Familiengräbern, zu Mutter und Vater, gebracht wird. So
wie er es sicher gewünscht hätte. So stehe ich hier, der
Nieselregen, der schon seit gestern unnachgiebig weiter tropft, fällt
auf meine Schultern. Nur dunkel erinnere ich mich an diesen Friedhof,
als Kind waren wir öfters hier. Ich sehe das Doppelgrab meiner
Eltern und auch mehrere Gräber anderer Verwandter. Die Lancasters
haben hier einen festen Bereich reserviert, damit sie alle
zusammenliegen, eine vorgegaukelte Nähe, die zu Lebzeiten nicht
abwegiger hätte sein können. Jonathans Grab hebt sich deutlich ab,
frisch angelegt und Blumen, die ich bestellt habe, lehnen an dem
Grabstein. ‚Ehemann, Bruder, Sohn‘ habe ich eingravieren lassen,
neben seinem Namen und den obligatorischen Daten. Ich stelle mich auf
die feuchte Grünfläche direkt davor, falte andächtig die Hände
und Gedenke den letzten schönen Nächten die ich mit ihm hatte. Denn
trotz der Trauer und seinem Leid, war es schön. Familie.
Ich
nicke ihm dann ein letztes Mal zu und wende mich, um den Friedhof
wieder zu verlassen. In zwei Stunden geht bereits mein Flug zurück,
zurück in eine Welt, die meine Anwesenheit verlangt.
Ich
passiere wieder das Grab meiner Eltern und kurz fällt mein Blick
darauf, so dass ich doch stehen bleibe. ‚Henry William Lancaster‘
und ‚Josephine Lancaster geb. Harold‘. Wie sehr ich es auch
versuche, ich erinnere mich nicht an ihr Gesicht, es ist nur eine
Ahnung, dass da jemand war, aber hätte ich das Foto vor einigen
Nächten nicht gesehen, wäre da bloß eine verschwommene Figur. Ich
gehe in die Hocke und berühre kurz die große marmorne Platte. Keine
Blumen liegen bereit und das Grab wirkt etwas verwittert. Ja, es
waren nur noch Jonathan und ich da. Und während ich schweigend die
Gräber meiner
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