Melville
sollen, um mir über einige Dinge klar zu
werden.
Am
Ende dieser Nacht unterhalten wir uns nicht, wie die letzten zwei
Nächte, über das Erlebte. Anstatt noch etwas Zeit im Salon zu
verbringen, verabschiede ich mich direkt.
In
meinem Zimmer setze ich mich auf das Bett, lege Fliege und Jackett
ab, raufe mir durch das Haar. Ich fühle mich ähnlich antriebs- und
ziellos, wie damals, kurz bevor ich mich entschied, nach Frankfurt
auszuwandern. Ich funktioniere, aber wirklich anwesend bin ich nicht.
Der Abschied von meiner Vergangenheit lässt mich anscheinend immer
leer und ausgebrannt zurück. Und gleichzeitig scheine ich nicht mehr
genau zu wissen, wer ich bin. Wer will ich überhaupt sein? Für was
genau kämpfe ich eigentlich oder besser gesagt, sollte ich kämpfen?
Vor
einigen Wochen noch strebte ich nach der reinen Macht, alles
zertreten, dass sich gegen mich auflehnt; sich bereichern, besser
sein als alle anderen. Und jetzt? War im Grunde genommen nicht alles
egal? Denn ein Ventrue, der sich nicht sicher ist, ob er nach Macht
strebt, ist doch eigentlich eher eine Totgeburt. Im wahrsten Sinne.
Andächtig
und respektvoll betreten wir am nächsten Abend die Sixtinische
Kapelle. Vor unserer Abreise noch hat Liam von den Fresken und
Bildern Michelangelos erzählt. Sicher stellen sie ein Höhepunkt
unseres Urlaubs dar. Frau Montinari redet und erzählt ganz
euphorisch vom Bau der Kapelle, man könnte fast meinen, sie wäre
damals selbst anwesend gewesen. Sie entschuldigt sich, dass wir nur
eine halbe Stunde Zeit in der Kapelle selbst haben werden, doch
während dieser Zeit können wir vollkommen ungestört die
Meisterwerke erleben. Wir betreten den Saal und mir verschlägt es
ein wenig den Atem, auch wenn das eine Redewendung ist, die nicht
mehr wirklich aktuell ist. Man wird von den Farben und ganzen Details
erschlagen, selbst bei der dezenten Nachtbeleuchtung, denn die
Flutlichter kann sie leider nicht einschalten, um nicht unnötig
Aufmerksamkeit zu erregen. Dennoch reicht es für den gewichtigen
Eindruck. Über das ‘Gewölbe’ hin zu ‘Nord’- und ‘Südwand’
erklärt sie uns, was man sehen kann und wie es im Zusammenhang zur
Kirche steht. Ich überlasse es Liam, sich alle Fakten von ihr
anzuhören und spaziere selber lieber schweigend etwas durch die
Kapelle und bleibe schließlich beim ‘Jüngsten Gericht’ stehen.
Ich betrachte die Höllenszenen, ebenso wie die Versuche der Engel
die Sünder und Gefallenen am Eintritt in das Himmelsreich zu hindern
und die Seligen und Guten empor zu holen. Es bringt mich zum Grinsen.
Ich glaube nicht an Himmel und Hölle, das sind nur Wörter, um die
Labilen und Schwächlichen kontrollieren zu können.
Liam
und unsere Reiseführerin schließen zu mir auf, leise berichtet sie
von den Sündern, den Heiligen, den Dämonen und auch den Engeln und
der göttlichen Gnade, die in diesem Bild erkennbar sind. Das Jüngste
Gericht wird uns alle richten, also sollen wir möglichst tugendhaft
und sündenfrei sein, wenn es zur Entscheidung kommt. Ich lächle
weiter lauschend.
Doch
das Lächeln bleibt mir im Halse stecken, als ich erkenne, was ganz
oben über dem Fresko für ein Wort steht.
‚IONAS‘.
Es
trifft mich fast wie ein Schlag. Sicher ist eine biblische Figur
gemeint, aber der Name ‘Jonas’ über einem Bild über die
Abstrafung für Sünden, und ich stehe auch noch davor und betrachte
es! Ich merke, dass mein Mund offen steht. Liam blickt mich zwar kurz
an, doch er zieht mit Frau Montinari weiter und lässt sich nun die
Struktur des Bodenmosaiks erläutern. Meine Augen hängen immer noch
wie gebannt an diesem Namen. Und wie ganz aus der Ferne höre ich
seine Schreie, sein Flehen. Sehe sein schönes Gesicht, wie er
scheinbar ganz verliebt in mich meine Nähe sucht und zulässt, dass
ich ihn benutzen kann. Ich schließe den Mund wieder und fühle wie
meine Glieder ein wenig erstarren. Ich bewege mich keinen Millimeter,
die sonstigen Versuche etwas menschlich zu wirken, lasse ich
vollkommen von mir abfallen.
Ich
nehme Liams Stimme wahr, doch verstehe die Worte nicht, so übertönt,
wie er in meinem Verstand von Jonas’ Schreien wird. Etwas berührt
mich am Arm und die Geräusche und Bilder verschwinden wieder
langsam. Ich drehe mich zur Seite.
„Wir
müssen gehen, Melville.”. Frau Montinari steht bereits am Eingang
und sieht auf die Uhr.
„Ja...
ja, natürlich...“, hauche ich leise und muss mich fast überwinden,
meine Beine wieder zu bewegen. Ich
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