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Memed mein Falke

Memed mein Falke

Titel: Memed mein Falke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yasar Kemal
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Lied von der Niederlage dieses Stammes. Es gibt auch ein Klagelied auf Kozanoğlu ...
Immer an dieser Stelle brach die Erzählung Ismails des Alten ab. Tränen traten ihm in die Augen, wenn er mit zitternden Lippen, aber noch immer machtvoller Stimme das Klagelied auf Kozanoğlu sang:
    »Durch den Schnee zum Kozan-Berge
    schleppt' ich mich mit meinen Wunden,
    späht' ich kriechend nach dem Wundarzt,
    der nur hülfe, zu gesunden.

    Kann es wahr sein, daß die Söhne
    meuchlings ihre Väter morden?
    Oh, sagt an, ihr Sultanskrieger,
    was ist aus der Welt geworden?

    Als das schwarze Zelt gesunken 
    unter fremder Reiter Drohen
    ist der Widder Kozanoğlu
    vor der Hundertzahl geflohen ...

... Dann haben die Osmanen die Stämme mit Gewalt in der Çukurova seßhaft gemacht, ihnen Felder gegeben, das Land vermessen, Grundbücher angelegt. Niemand durfte mehr auf die Sommerweiden ziehen, die Wege zu den Bergen waren von Militärposten gesperrt. Die Stammesleute wurden immer weniger, die Malaria und die Hitze rafften einen nach dem anderen hinweg.
Der Stamm wollte nicht mehr in der Çukurova bleiben. An den Setzlingen und Bäumen, die ihnen die Osmanen gaben, brannten sie die Wurzeln ab, bevor sie sie einpflanzten. Deshalb sieht man heute in keinem Dorf hier einen Baum. Dann merkten die Osmanen, daß sie die Stammesleute auf diese Art völlig ausrotten würden, und sie erlaubten ihnen wieder, auf die Sommerweiden zu ziehen.
Langsam gewöhnten sich die Nomaden an die Çukurova; sie machten Dörfer aus ihren Zeltplätzen, sie begannen den Boden zu bebauen ... So kam es, daß die Stämme auseinanderfielen, daß neue Sitten aufkamen. Eine andere Zeit war angebrochen. Auch die Menschen wurden anders, schicksalsergeben. Schließlich wurde alles so, wie es der Osmane gewollt hatte.«
Tagelang konnte Ismail der Alte so die Geschichte von den alten Stämmen erzählen, ohne müde zu werden. Er lebte nur von der Sehnsucht nach der vergangenen Zeit des freien Daseins. »Ich habe Dadaloğlu noch selbst gesehen«, begann er immer. Er war sehr stolz darauf.
Die Jahre zogen ins Land: 1917, 1918, 1919, 1920. Der Osmane war im großen Krieg gewesen und besiegt worden. Die Çukurova wimmelte von Deserteuren und Wegelagerern, das Taurusgebirge war unzugänglich geworden. Dann rückten die französischen Besatzungstruppen an, und Banditen, Deserteure, Freischärler, brave Männer und Halunken, Halbwüchsige und Greise zogen in den Befreiungskampf. Alles, was eine Waffe tragen konnte, tat sich zusammen und half, den Feind aus der Çukurova zu werfen. Aus dem ganzen Land wurden die Fremdlinge vertrieben. Es gab eine neue Regierung; eine neue Epoche brach an.
Gegen Ende des vergangenen Jahrhunderts hatten sich die Lebensbedingungen mehr und mehr so entwickelt, daß die Menschen gezwungen wurden, sich an ein Stück Land zu binden. Der Boden gewann ständig an Wert. So gaben die Türkmenen, des langen Kampfes müde, ihre Sommerweiden auf und widmeten ihre ganze Kraft der Feldbestellung.
Der jungfräuliche Boden war unvorstellbar ertragreich; er gab das Vierzig- bis Fünfzigfache von dem, was er als Saat empfangen hatte, wieder zurück. Vom Jahre 1900 an war bereits ein kleiner Teil der Sümpfe trockengelegt und das Riedgras niedergebrannt worden. Allmählich konnte annähernd die Hälfte des Çukurova-Bodens bebaut werden.
Die neue Regierung gab sich alle Mühe, der unumschränkten Gewaltausübung der Feudalherren und ihrer Überbleibsel einen Riegel vorzuschieben. Das Feudalsystem war ohnedies schon im Niedergang begriffen. An seine Stelle trat die Herrschaft einer kleinen Gruppe von Neureichen, die alle erdenklichen Mittel anwandten, um ein möglichst großes Stück Land aus dem Besitz der blutarmen Einheimischen an sich zu bringen. Da sie es verstanden, die Gesetze zu ihrem Vorteil auszulegen, und auch vor Bestechung und nackter Gewalt nicht zurückscheuten, blieben sie schließlich Sieger. Ihre Ländereien nahmen immer mehr an Umfang zu. Die Folge war ein erbitterter Kampf zwischen den neuen Grundbesitzern und der eingesessenen Bevölkerung. Die Reichen verfielen nun darauf, die in den gegenüberliegenden Bergen streifenden Räuberbanden als Druckmittel gegen das hartnäckig sein Recht auf den Boden verteidigende Volk einzusetzen. Sie sorgten dafür, daß ihnen in ihren Gebirgsschlupfwinkeln die Vorräte nicht ausgingen, und sie nahmen sie gegenüber der Regierung in Schutz. Bald gab es kaum einen Aga, der sich nicht dieses bequemen Mittels, seine

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