Memed mein Falke
Recep seine helle Freude haben, aber der liegt jetzt im Ried von Anavarza.
Mitten in diesen Träumen fühlte Memed etwas wie eine unbestimmte Furcht. Mehr als tausend Bauern! Es war kaum zu glauben. Was wollten sie alle in den Bergen? Ein Dorf war abgebrannt. Was scherte es sie? Eine Abteilung Gendarmen! Nun gut. Mochten es fünfzehnhundert oder zweitausend Mann sein! Die Furcht verflog so schnell, wie sie gekommen war. Schließlich hatte er mehr als dreihundert Schuß Munition. Und keiner davon würde umsonst verfeuert werden, dessen war er sicher.
In solchen Gedanken verbrachte er die Zeit bis zum Morgen. Dabei ging ihm Hatçe nicht aus dem Sinn. Wenn er an das Gefängnis dachte, krampfte sich ihm das Herz zusammen. Wie konnte ein Mensch von so viel Leid auf einmal betroffen werden!
Cabbar erwachte erst am Vormittag. »Warum hast du mich nicht geweckt, Memed?« blinzelte er in die Sonne.
»Ich war nicht müde.«
»Laß uns etwas essen, dann kannst du schlafen.«
»Meinetwegen.«
Cabbar brachte den Beutel. Käse und frische Zwiebeln waren darin. Sie rollten beides in Brotfladen ein und aßen langsam. Unter dem Felsen gegenüber sprudelte eine Quelle. Als sie satt waren, traten sie an das Wasser, legten sich flach auf den Boden und tranken.
»Ich lege mich dort in die Sonne«, sagte Memed.
Kaum hatte sein Kopf den Erdboden berührt, so schlief er auch schon. Sein Gesicht hatte den friedvollen Ausdruck eines Kindes. Als die Sonne den Berggipfel erreicht hatte, wachte er schweißgebadet auf. Er streckte sich, ging an die Quelle und erfrischte sich mit dem kalten Quellwasser das Gesicht.
»Ob dieser Ümmet uns hereinlegen will?« fragte Cabbar.
»Das glaube ich nicht. Aber wir wollen trotzdem von hier weg. Laß uns nach Değirmenoluk gehen.«
»Und wenn wir in eine Falle geraten?«
»Ein Bandit gerät nicht in eine Falle. Ein Bandit stellt sie.«
»Aber wir müssen erst auf Ümmet warten.«
»Ja. Wir können nicht fort, ohne ihm Bescheid zu sagen.«
Nach einer Stunde hörten sie ein Rascheln unten in den Büschen. Sofort sprangen sie hinter die Felsen. Das Geräusch wurde lauter, kam näher. Hinter den Kiefern erschien Ümmet. Er lächelte, als er die beiden in Deckung sah.
»Sie haben aufgegeben. Sie kehren um. Ich habe ihnen auch noch zugeredet. Wenn die Banditen erst gestern in der Ebene von Anavarza gehaust haben, können sie unmöglich heute auf dem Akarca-Berg sein, habe ich gesagt.«
»Das hast du richtig angefangen, Bruder Ümmet«, lachte Cabbar.
Ümmet faßte Memeds Hand. »Du bist mir so lieb geworden wie mein eigenes Leben, Bruder. Du hast recht getan. Ich bin dein Diener, mit all den Meinen.«
»Ja, verbrannt haben wir ihn, lebendig geröstet«, prahlte Cabbar. Ümmet schwieg dazu.
»Sag mal, Bruder Ümmet, wenn jedermann den Boden zu eigen hätte, den er bestellt, wie fändest du das?« fragte Memed.
»Eine sehr, sehr gute Sache wäre das.«
»Und wenn jeder die Ochsen besitzen würde, mit denen er pflügt?«
»Etwas Besseres könnte es gar nicht geben auf der Welt.«
»Und wenn die Distelfelder gründlich abgebrannt würden und dann gepflügt?«
»Ein sehr guter Gedanke, wirklich ... «
Cabbar nahm einen neuen Beutel Proviant von Ümmet entgegen und band ihn um.
»Möge es dir gutgehen, Ümmet«, sagten sie.
»Kommt zu mir, wann immer ihr in Bedrängnis seid. Ich werde euch beschützen wie meine Brüder. Du bist mir lieb geworden, Memed.«
»Ich danke dir.«
Memed, der voranlief, blieb stehen. Als Cabbar ihn eingeholt hatte, hielt auch er inne. Memed drückte die Hand Cabbars, die das Gewehr hielt. Ihre Blicke kreuzten sich. So standen sie da und blickten sich an.
Memed war glücklich. »Bruder, ich freue mich, ich freue mich riesig.«
»Ich mich auch«, gab Cabbar zurück.
17
Das Dorf Karadut liegt unmittelbar am Ufer des Ceyhan-Flusses. Der Ceyhan tritt kurz vor Karadut in die Ebene und wird so breit, daß er einem See gleicht. Sein Wasser scheint still dazuliegen. Alle zehn bis fünfzehn Jahre sucht sich der Fluß hier ein neues Bett. Einmal bricht er nach links aus, dann nach rechts. Der reichlich abgelagerte Schlamm macht die Çukurova an dieser Stelle fruchtbarer als anderswo.
Der Wert des Bodens um Karadut ist nicht in Geld auszudrücken.
Ali Safa Beys jüngster Landzuwachs grenzte an Karadut. Mehr als die Hälfte dieses Landes hatte er von vertriebenen Armeniern übernommen. Das übrige hatte er den Bauern von Karadut mit List und Gewalt entrissen. Die jahrelange Feindschaft zwischen ihm und den
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