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Memed mein Falke

Memed mein Falke

Titel: Memed mein Falke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yasar Kemal
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schreien werde! Geh nur zu ihm, Bruder, und sag ihm das. Grüße ihn von mir, und er soll auch den anderen Gottlosen töten, den Ali Safa Bey. Und dem Verzinner soll er den Kopf abschneiden und ihn in die Çukurova schicken. Hast du gehört, Bruder?«
»Um Allahs willen, Weib«, brummte Durmuş Ali. »Nun gib endlich Ruhe. Jetzt müssen wir uns um das kümmern, was unser Gast auf dem Herzen hat.«
»Ach, mach dich doch nicht wichtig!« gab die Alte zurück. »Ali der Hinkende geht sowieso zu Memed. Er muß jetzt im Dorf Çiçeklideresi sein. Da können wir den Bruder doch mit ihm schicken.«
Osman der Mächtige fragte ängstlich: »Ist es weit bis dahin?
Ziemlich weit«, antwortete die Frau.
»Dann will ich heute nacht lieber hierbleiben und mich dann auf den Weg machen.«
»Gut«, sagte die Frau, »und ich lasse den Hinkenden suchen. Abdi hat ihn zu seinem Hausbewahrer gemacht, aber er ist auf unserer Seite ... «
Durmuş Ali warf ihr wütende Blicke zu. Sie verstummte.
Plötzlich sahen sie, daß Osman der Mächtige mit zur Seite gefallenem Kopf und dem Rücken an der Wand eingeschlafen war. Durmuş Ali lächelte. Die Frau auch.
»Der arme Alte«, sagte sie, »wer weiß, wieviel Tage er auf dem Pferd saß.«
»Wer weiß.«

21
    Sie folgten einem schmalen Saumpfad, der nach Çiçeklideresi hinaufführte. Seit dem frühen Morgen hatte Osman der Mächtige nicht aufgehört, Ali den Hinkenden mit Fragen zu bestürmen. »Sag, was ist er für ein Mann, mein Falke?«
Jedesmal hatte der Hinkende darauf geantwortet: »Große, gelblichbraune Augen hat er. Sein Haar steht aufrecht wie Stacheln, seine Miene ist bitter. Er hat ein sonnenverbranntes Gesicht und ein spitzes Kinn. Er ist mittelgroß, behende und kann sogar durch ein Nadelöhr schießen. Furcht kennt er nicht. Er geht drauflos und wenn er weiß, daß es den sicheren Tod bedeutet.«
»So?« sagte Osman der Mächtige dann. »Und verbirgt sich mein Falke immer auf diesem Berg?«
»Nein. Aber dieses Jahr wird er sicherlich hier bleiben. Von Çiçeklideresi ist es nicht weit zur Kreisstadt ... «
»Ja, und?«
»Dort sitzt nämlich Hatçe im Gefängnis. Die Zeugen haben ihre falsche Aussage widerrufen, aber die Obrigkeit läßt das Mädchen trotzdem nicht frei.«
Sie gingen über eine leuchtendgrüne Matte, deren Gras so kurz war wie geschnittener Rasen. Weiße und dunkle Herbstwolken drängten sich nebeneinander am Himmel. Es ging, gegen Abend, als sie, kurz nachdem der Wald durchschnitten war, vor einem Erdbau standen. Der Hinkende stieß einen Pfiff aus. Cabbar erschien auf dem Dach des Unterstandes. »Memed, Bruder!« rief er hinunter.
Jetzt zeigte sich auch Memed. »Oh, Ali Aga! Willkommen!«
Sie umarmten sich.
»Sei mir nicht böse, Memed, daß ich jetzt erst komme«, sagte Ali, »ich hatte Nachrichten für dich, aber ich konnte dich nicht erreichen. Nur gut, daß ihr euch aus der Falle des Verzinners gerettet habt. Dieser Hundesohn, der Horali! Das hätte ich nie von ihm gedacht, ich habe ihn doch gekannt, seit er Wächter in der Melonenpflanzung war.«
Während die beiden miteinander sprachen, stand Osman der Mächtige mit verklärtem Lächeln abseits. Das Pferd in seinem Rücken hielt wie immer den rechten Vorderlauf angewinkelt, die Haare standen ihm vom Körper ab. Es war durchnäßt.
»Wer ist das?« fragte Memed leise.
»Der kommt von ganz da unten, aus dem Dorf Vayvay«, antwortete Ali der Hinkende. »Er nennt dich nur ‚seinen Falken'.«
Memed ging langsam auf den Alten zu, streckte ihm die Hand hin. »Willkommen, Onkel!«
»Danke, mein Sohn«, erwiderte Osman der Mächtige strahlend, »das bist du also, mein Falke?«
»Ja, der bin ich«, lächelte er, ein wenig verlegen.
Mit einem ganz unerwarteten Schwung sprang der Alte auf Memed zu, nahm ihn in die Arme, bedeckte ihn schluchzend mit Küssen. »Ince Memed! Ince Memed, mein Falke!«
»Ich kann es nicht glauben«, flüsterte Osman, »ich traue meinen Augen nicht. Du bist es also wirklich, mein Falke?«
»Entschuldige schon, Onkel«, sagte Memed, noch verlegener, »wir können dir nicht einmal einen Kaffee anbieten, hier auf dem Berg ... «
»Mögest du lange leben, mein Falke!«
Memed war nicht mehr so schmächtig. Seine Wangen hatten etwas Farbe bekommen. Sein schwarzer Schnurrbart war gewachsen, sein ganzer Ausdruck hatte an Entschlossenheit gewonnen. Seine Gestalt schien breiter geworden zu sein.
Ali dem Hinkenden war seine Veränderung nicht entgangen. »Memed«, rief er aus, »man kennt dich nicht

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