Memed mein Falke
Turteltaube gurrte unablässig.
»Ich glaube, wir kommen jetzt zum Falkenfelsen«, sagte Cabbar.
»So ist es«, sagte Horali. »Morgen früh sind wir beim Verzinner. An der Göğçe-Quelle auf dem Konurdağ wird er auf uns warten.«
Memed biß die Zähne zusammen. »So soll das also sein?« Aber er beherrschte sich.
Er konnte sich nicht vorstellen, warum der Verzinner ihm eine Falle stellen wollte. In seinem Kopf schossen die Gedanken wild durcheinander. Abdi Aga fiel ihm jetzt ein. Aber was Abdi Aga mit dem Verzinner zu tun haben sollte, darauf konnte er sich keinen Reim machen.
Über dem Gipfel des Kayranli breitete sich eine vielfarbige Morgendämmerung aus. Die Nebel stiegen langsam vom Boden und von den Bäumen auf, als sie am anderen Tag den Konurdağ erreichten. »Wartet solange hier«, sagte Horali. »Ich gebe inzwischen Bescheid.«
Memed und Cabbar setzten sich.
»Meinst du, daß sie uns jetzt mit einer Salve überschütten, Cabbar?«
»Nein. Bevor sie uns anfallen, werden sie uns zumindest mit Lammbraten bewirten.«
»Das glaube ich auch. Der Verzinner hat nicht den Mut, sich auf einen offenen Kampf mit uns einzulassen. Wenn er der ist, von dem wir so viel erzählen gehört haben, dann wird er uns erst einmal die Gewehre aus der Hand nehmen und danach trachten, uns bei der Mahlzeit umzubringen. Das ist dann ein Kinderspiel. Aber ich weiß immer noch nicht, warum er uns ans Leben will.«
»Das ist doch ganz klar«, sagte Cabbar. »Er ist Ali Safa Beys Mann.«
»Na und?«
»Und Ali Safa Bey ist ... «
»Das glaubst du doch selbst nicht.«
»Laß dich nicht für dumm verkaufen, Memed. Sie sind einer des anderen Sklave. Hast du jetzt verstanden?«
»Ja, ich habe verstanden. Abdi Aga steckt also dahinter, was?«
»Natürlich! Anders kann es doch gar nicht sein!«
Kurz vor Mittag kam Horali zurück. Sie standen auf, um das letzte Wegstück bis zur Göğçe-Quelle zurückzulegen. Als sie unterhalb der Quelle waren, tauchte der Verzinner in der Ferne auf. Langsam kam er näher. Es war offensichtlich, daß er etwas im Schilde führte.
Memed warf sich zu Boden und begann sofort auf den Verzinner zu feuern. Hinter ihm kam ein Aufschrei. Memed drehte sich um und sah, daß Cabbar auf Horali geschossen hatte.
»Ich habe bis zur letzten Minute gewartet«, rief Cabbar. »Ich wollte ihm noch eine Gelegenheit geben, den Mund aufzutun und seine kostbare Haut zu retten.«
»Der Verzinner ist nicht mehr zu sehen«, sagte Memed besorgt. »Ich habe zu schnell abgedrückt. Ich glaube, ich habe ihn verfehlt.« Dann rief er aus Leibeskräften: »Verzinner, komm her, wenn du ein Mann bist! Du feiger Furz! Zeig dich, du Schlächter! Ali Safas Hund! Du Schlächter! Du Schlächter, du feiger Furz! Zeig dich!«
Auch Cabbar brüllte mit: »Hast du gemeint, daß wir die Flucht ergreifen? Zeig dich, wenn du ein Mann bist!«
Von der anderen Seite kam kein Laut. Kurz darauf hagelte es Kugeln von überall her.
Memed lachte. »Der Verzinner hat Mut bekommen. Jetzt werde ich's ihm zeigen!«
Der Kampf dauerte bis Mitternacht.
20
Bald wußte es die ganze Çukurova, von Kadirli bis Kozan, von Ceyhan bis Adana und Osmaniye: Ali Safa Bey hatte auf Abdi Agas Betreiben den Verzinner veranlaßt, eine heimtückische Falle zu stellen. Ince Memed aber war nicht nur aus dieser Falle entwischt, ohne einen Kratzer abzubekommen, er hatte auch noch den Verzinner verwundet und zwei seiner Leute getötet.
Ince Memeds Abenteuer gingen, in entsprechend ausgeschmückter Form, in der Çukurova und im Taurus von Mund zu Mund. Alle waren auf seiner Seite. Die Bergbewohner waren bereit, Ince Memed gegen alle Feinde zu verteidigen, koste es, was es wolle. »Die Leute haben gedacht, er sei nur ein harmloses Kind«, pflegten sie zu sagen, »aber er besteht von Kopf bis Fuß nur aus Mut. Er ruht nicht eher, als bis er an Abdi Aga Rache für seine Mutter genommen hat. Und Ali Safa Bey wird für seine Schandtaten an dem Dorf Vayvay auch bezahlen müssen.«
Die große Wirkung des Kampfes zwischen Ince Memed und dem Verzinner zeigte sich in Vayvay. Als die Nachricht eintraf, war es gerade Abend. Alle ließen sofort ihre Arbeit liegen und versammelten sich auf dem Dorfplatz. Ihre Freude war unbeschreiblich. Endlich hatten sie einen Verbündeten, und noch dazu einen, der in ihren Augen so mächtig und unbesiegbar war wie ein Held der Sage. Sie dichteten Ince Memed so viele Wundertaten an, daß zehn Männer sie in ihrem ganzen Leben nicht alle hätten vollbringen können. Aber
Weitere Kostenlose Bücher