Memed mein Falke
du, Ali Safa Bey legt jetzt die Hände in den Schoß? Der Verzinner war sein Geschöpf und sein Liebling. Mit ihm habt ihr ein Stück von ihm selbst getötet. Kann er das einfach hinnehmen?«
»Mag er es hinnehmen oder nicht«, meinte Memed gleichmütig, »mir ist nicht bange vor ihm. Wie sagt Ali der Arme immer? ‚Hat es schon einmal einen Tag gegeben, aus dem nicht ein Abend geworden ist?'«
Kaum hatte er den Namen genannt, so kam Ali der Arme auch schon langsam hereingeschlendert, das Gewehr quer über die Brust gehängt, und griff nach seiner Saz. Nachdem er das Instrument ein wenig gestimmt hatte, begann er zu singen. Seine tiefe, machtvolle Stimme klang, als komme sie aus einer tausend Jahre zurückliegenden Vergangenheit. Sein Lied schien vom Meer, von den Bergen, von der Çukurova her zu wehen. Es trug das Salz des Meeres, das Harz der Kiefern, den Duft der Poleiminze.
»Komm und stille meine Schmerzen«, sang er, »bist Arznei für alle Herzen.« Die Stimme setzte aus, während der Sänger die Saiten im Refrain lauter erklingen ließ. »Bist Arznei für alle Herzen.« Dann sang er weiter: »Wohin ich auch immer blickte, stets sah ich die Liebste vor mir ... «
Als das Lied zu Ende war, hockte er zusammengekrümmt über der Saz, als sei er eingeschlafen. Aber plötzlich hob er den Kopf, seine Hände flogen über die Saiten. Es klang wie der Ausbruch wilder Naturgewalten:
»Mein Name, fragst du? Wisse, der arme Ali bin ich
Klug für einen Tag, doch toll für hundert bin ich
Wie zur Frühlingszeit der Gießbach schäumt, so bin ich
Hoch vom Berg, vom schneebedeckten, komm ich ... «
Der Sänger verstummte. Lange saß er erschöpft und bewegungslos da. Behutsam legte er das Instrument beiseite. Auch Memed rührte sich nicht. Plötzlich während des Liedes war der stählerne Funke in seinen Augen erschienen, das gelbe Leuchten war in ihm aufgeflammt.
»Ali Aga«, sagte er leise.
»Ja?«
Er zeigte mit dem Kopf nach draußen. Der Hinkende erhob sich, ging zur Tür. Memed folgte ihm.
Als sie hinaustraten, ging Cabbar auf Ali den Armen zu und stupste ihn an. Ali der Arme kam wieder zu sich. »Schau her, Ali«, sagte Cabbar, »sieh mich an ... «
»Was ist denn?«
»Memed führte den Hinkenden hinaus. Verstehst du?«
Ali der Arme lachte. »Ich verstehe.«
»Der Mann hat den Verstand verloren. Sein Verstand ist im Eimer. Weißt du, was er jetzt dem Hinkenden sagt? Er will mit ihm in die Kreisstadt gehen.«
»Was hast du sonst erwartet? Jedem, der ihm über den Weg läuft, erzählt er die Geschichte. In Çiçeklideresi geht sie von Mund zu Mund. Die Bauern wissen, daß Memed gesagt hat, er werde seine Hatçe noch einmal sehen, bevor er stirbt. ‚Allah möge mir das Leben nehmen', soll er gesagt haben, ‚aber selbst wenn die Kreisstadt in Flammen steht, werde ich Hatçe im Gefängnis sehen.' Das alles erzählen sich die Bauern.«
Cabbar sagte: »Dieser Mann rennt mit offenen Augen in sein Unglück. Ich möchte ihn zurückhalten, aber er schaut mich so böse an, als wäre ich sein Feind.«
»Laß den Betrunkenen gehen, bis er umfällt.«
»Ja, laß den Betrunkenen, aber Memed ist ein tapferer, ein guter Mann. Diese Berge haben noch keinen wie ihn gesehen und werden es auch nicht mehr. Er ist ein Licht, ein Heiliger ... «
Draußen wütete der Nordostwind. Es würde bald Schnee geben. Eben waren die Kraniche über die Berge gezogen, die Boten des Winters, den man schon in der Luft wittern konnte. Kiefernnadeln wirbelten im Sturm umher. Memed drückte Ali den Hinkenden gegen eine Kiefer. »Setz dich hier hin.«
Der Hinkende starrte Memed erwartungsvoll ins Gesicht. Memeds Lippen zitterten, als er sich neben Ali niederließ.
»Ali Aga«, begann er, »du bist ein gescheiter Mann. Du weißt genauso gut wie ich, daß all das Ungemach nur deinetwegen über mich gekommen ist. Aber es ist mir klar geworden, daß du nicht anders handeln konntest.«
Sein Gesicht zeigte qualvolle Anspannung. »Hör zu, Ali. Morgen gehe ich zu Hatçe.«
»Das ist doch nicht dein Ernst?« rief Ali erschrocken.
»Du hast es gehört.« Eiskalte Entschlossenheit war in seiner Stimme.
Ali der Hinkende verfiel in sorgenvolles Grübeln. Dann stöhnte er: »Das bedeutet den sicheren Tod.«
»Der steht mir ohnehin auf der Stirn geschrieben.« Ein Sturm von Leidenschaft und Qual tobte in Memeds Zügen. »Ich halte es einfach nicht mehr aus, dieses Feuer, das mir im Herzen frißt. Ich muß zu ihr, sonst verbrenne ich. Morgen früh ... «
Ali der
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