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Memed mein Falke

Memed mein Falke

Titel: Memed mein Falke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yasar Kemal
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blieb. Trotzdem wußte niemand etwas über Ince Memeds Schlupfwinkel, und niemand machte sich auf, ihn zu suchen. Wenn einer den Gendarmen eine Wegauskunft gab, dann führte er sie mit Sicherheit in die Irre. In Değirmenoluk und in den anderen Bergdörfern wurde nur noch davon gesprochen, daß Memed ein unschuldig eingekerkertes Mädchen befreit hatte. Täglich entstanden neue Lieder, in denen die Tat besungen wurde.
    Zwei Tage nach dem Überfall auf den Transport kamen die Gendarmen nach Değirmenoluk. Ihre grimmigen Gesichter ließen das Schlimmste befürchten. Zuerst drangen sie in Durmuş Alis Haus ein, holten den Alten heraus und verhörten ihn. Er sagte kein Wort, sosehr sie ihn auch bedrohten.
    Dann bearbeiteten sie ihn mit dem Gewehrkolben. Hürü, seine Frau, umflatterte ihn wie ein aufgescheuchter Vogel und überschüttete die Peiniger mit Verwünschungen, bis einer sie mit einem Kolbenstoß zum Schweigen brachte.
    Sie ließen die beiden Alten in ihrem Blut liegen und zogen weiter. Bis zum Abend hatten sie eine ganze Anzahl der Bewohner übel zugerichtet. Über Nacht blieben sie in Abdi Agas Haus zu Gast. Am nächsten Morgen fuhren sie schon in aller Frühe mit ihren Drangsalierungen fort. Eine Welle des Schreckens verbreitete sich über alle Bergdörfer bis hinauf zu den Gipfeln.
    Ince Memed hatte sich auf den Alidağ zurückgezogen, auf die steilen, unzugänglichen Felsenhöhen, wo der langgehörnte Purpurhirsch haust. Die Felsen dort sind so schroff, daß es unmöglich ist, sie zu erklettern. Die alten Märchen erzählen von einem Berg aus Feuerstein - ein solches Bergmassiv ist der Alidağ. Der Baumwuchs hört schon weit unterhalb seines Gipfels auf, der nur aus kahlen Felsen besteht. Dort oben bleibt der Schnee das ganze Jahr über liegen. Memed war oft zur Hirschjagd auf dem Alidağ gewesen. Er kannte den Berg bis in die letzte Felsspalte. Ganz oben, auf dem höchsten Gipfel war eine Höhle. Aber zu ihr führte kein Weg; man mußte an den Fels geklammert fünfhundert Meter weit kriechen.
    Kurz nach ihrer Ankunft in Çiçeklideresi waren sie von den Gendarmen in die Enge getrieben worden. Bald hatten sie auch erfahren, daß Ibrahim der Schwarze hinter ihnen her war. Hirten, Bauern und Waldarbeiter sorgten dafür, daß Memed täglich erfuhr, was draußen vorging. Er konnte mit den Frauen nur noch bis zu den Bergen oberhalb von Çiçeklideresi ziehen. Hatçe und Iraz waren von den ungewohnten Strapazen zu sehr mitgenommen, und ihre aufgeschwollenen Füße schmerzten.
    Zwar jagte der Onkel des Sängers Ali noch seinen Hirten zu Memed mit der Botschaft, sie seien in der Zange und es sei höchste Zeit zu fliehen. Aber nun war es zu spät. In der Morgendämmerung des nächsten Tages hatten Ibrahim der Schwarze und die Gendarmen sie von allen Seiten eingekreist. Ein Feuerüberfall begann. Memed ging sparsam mit seiner Munition um und schoß nur, wenn einer der Verfolger zu nahe herankam. Sergeant Asim forderte ihn immer wieder auf, sich zu ergeben.
    Dicht nebeneinander klebten die Gendarmen an der Bergwand. Sie konnten sich nicht vom Fleck rühren. Memeds Flinte wurde unbrauchbar, als eine Patrone im heißgewordenen Lauf steckenblieb. Er bohrte den Lauf in die Erde, um ihn sich abkühlen zu lassen, und schoß mit der Pistole weiter. Mit schweißüberströmtem, pulvergeschwärztem Gesicht lachte er über Hatçes verängstigtes Zittern.
    Iraz aber war eine umsichtige Kampfgefährtin. Geschickt holte sie den steckengebliebenen Schuß aus dem wieder abgekühlten Lauf und drückte Memed die feuerbereite Flinte in die Hand. Gegen Abend hörten die anderen auf zu schießen. Es war die Taktik von Ibrahim dem Schwarzen, vorzutäuschen, als ziehe er sich zurück. Sobald seine Gegner sich in Sicherheit wiegten und zur Flucht ansetzten, würde er sich mit allen Kräften vom Rücken her auf sie stürzen.
    Memed begriff sofort, was Ibrahim im Sinn hatte. Er mußte ihm zuvorkommen und seine Leute durch einen gewagten Angriff in Panik versetzen. Mit wilden Rufen sprang er aus der Deckung und stürmte, wie toll feuernd, hinter den Gendarmen her. Hatçe kreischte auf. Für die anderen kam Memeds wahnwitziger Ansturm völlig unerwartet. In heillosem Durcheinander flohen sie bergab. Memed blieb ihnen bis zum Sonnenuntergang auf den Fersen.
    Als er um Mitternacht zurückkam, warf sich Hatçe weinend an seine Brust. Iraz zog sie von ihm fort: »Was gibt's denn da zu jammern, dumme Gans! Geht vielleicht die Welt deswegen unter?

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