Memed mein Falke
anders an. Sogar mit den Tageszeiten wechseln Klang und Stimmung des Liedes. Genauso ist es mit diesen bestickten Strümpfen. In ihren Stickereien liegt ebensoviel Gefühl und Vorstellungskraft wie in den alten Liedern. Die harmonische Vereinigung der Farben, Gelb, Rot, Blau, Grün, Orange und andere mehr, läßt ein warmes, weiches Gefühl aufkommen. Mit Hingabe und Kunstfertigkeit gearbeitet, wird ein solches Gebilde zu einem Zeichen der Freundschaft, der Liebe.
Diese Strümpfe waren ein Liebesgruß, daher Memeds Zittern, wenn er sie berührte. Das Stickmuster zeigt, wenn es diese Bedeutung haben soll, in ständiger Wiederkehr zwei sich schnäbelnde Vögel und zwei Bäume mit schlanken Stämmen, jeder nur mit einer Blüte. Die Bäume stehen dicht beieinander, und ihre Blüten berühren sich wie in einer Liebkosung. Zwischen diesen beiden Mustern fließt ein weißer, von roten Felsen eingerahmter Strom.
In Memeds Innerem drehten sich die Bilder und Farben wie in einem Tanz. Er zog die Strümpfe an, sie reichten ihm bis an die Knie. Ober seine halbe Beinlänge küßten sich die Vögel und Blumen, floß der weiße Strom dahin.
Wie schön wäre es, jetzt Hatçe zu begegnen. Als ihm dieser Gedanke durch den Kopf ging, hatte er schon den Weg zu ihrem Haus eingeschlagen. Er sah sie vor der Tür stehen, ihre großen, strahlenden Augen lachten ihm zu. Sie war glücklich darüber, daß er die von ihr gestrickten Strümpfe trug.
Als Memed aus dem Dorf zurückgekehrt war, setzte er sich vor dem Haus auf einen Stein. Bald danach kam sein Freund, mit dem er sich verabredet hatte.
»Seid mir bloß vorsichtig, Kinder!« mahnte Döne. »Wenn Abdi etwas erfährt, dann geht's euch schlecht.«
»Da brauchst du keine Angst zu haben«, sagte Memed.
Sein Freund Mustafa, der Sohn Alis des Glatzköpfigen, war wie er selbst in diesem Jahr achtzehn geworden. Die beiden hatten so lange die Köpfe zusammengesteckt und von der Kreisstadt phantasiert, bis es für sie nichts anderes mehr gab als die Entschlossenheit, sie mit eigenen Augen zu sehen. Seit Dursuns märchenhafter Schilderung der Çukorova - das war jetzt schon Jahre her - ließ es ihnen keine Ruhe mehr. Aber immer, wenn sie das Abenteuer wagen wollten, gab es irgendeinen Hinderungsgrund, einmal Mustafas Vater, dann Memeds Mutter. Hinzu kam die gemeinsame Furcht vor Abdi Aga.
Schließlich hatten sie vor drei Tagen ihren ganzen Plan Döne offenbart. Erst wollte sie nichts davon hören. »Wie könnt ihr jungen Burschen einfach in die Stadt gehen? Wenn Abdi Aga davon erfährt - der jagt uns aus dem Dorf!«
Memed bettelte. Und am Ende fügte sie sich seufzend: »Ach, mag er mit uns machen, was er will ... Es ist ja alles gleich.« Mustafas Vater sagten sie, daß sie auf die Hirschjagd gehen und ein paar Tage im Gebirge bleiben wollten. Schließlich waren Memed und Mustafa oft genug zusammen auf der Jagd gewesen. Memed galt als der beste Schütze im Dorf, der selbst einen Floh nicht verfehlte. Ali der Glatzköpfige hätte ihnen natürlich nicht geglaubt, wenn er sie in ihren besten Kleidern und mit »Liebesstrümpfen« gesehen hätte. Mustafa ließ das zum Schein mitgenommene Gewehr in Dönes Haus zurück. Während der ganzen Nacht taten sie vor lauter Pläneschmieden kein Auge zu. Noch vor Morgengrauen machten sie sich auf den Weg. Sie gingen schnell, als fürchteten sie, zu spät an ihr Ziel zu gelangen. Die kühle Morgenbrise ließ sie frösteln. Bis es Tag wurde, sprachen sie nicht, sie gönnten sich nicht einmal eine kurze Verschnaufpause. Erst auf einer grünen Ebene machte Memed halt. »Da hinten muß Sariboğa liegen. Wenn wir das hinter uns haben, kommt Değirmenler dann Dikirli. Hinter Dikirh liegt die Stadt.«
»Die Stadt ... «, wiederholte Mustafa.
Sie verfielen wieder in ihren schnellen Schnitt. Ab und zu blieben sie einen Augenblick stehen, lächelten sich zu, marschierten weiter. Bald hatten sie Süleymanli mit der verbrannten Holzbrücke, dem unterirdischen Wegstück und dem Märtyrergrab hinter sich. Zur Mittagszeit erreichten sie Torunlar. Es war warm geworden. Inmitten rot blühender Granatapfelbäume ließen sie sich auf den feuchten Boden nieder. Plötzlich tauchte zwischen den Bäumen ein hochgewachsener Greis auf mit nackter, graubehaarter Brust, langen grauen Haaren und weißem Bart, müde und schwitzend.
»Friede sei mit euch, Burschen.« Er hatte eine kräftige, hallende Stimme. Kaum saß er neben den beiden, als er auch schon ein Bündel Mundvorrat aus seinem
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