Memed mein Falke
Händler vom vergangenen Abend und frisches, warmes Brot bei einem Bäcker. Diesen Mundvorrat knoteten sie in ein Taschentuch ein.
Auf einem Stein am Marktplatz sitzend, starrten sie so lange auf die ihnen gegenüber aufgehäuften goldenen Orangen, bis sie aufstehen und jeder eine davon kaufen mußten, die sie gleich verzehrten.
Gegen Mittag traten sie den Heimweg an. Die Sonne stand genau über ihnen und warf ihnen ihre kleinen, runden Schatten knapp vor die Füße. Bis die Stadt ihren Blicken entschwunden war, schauten sie sich auf dem Weg immer wieder um. Sie sahen noch einmal die dünnen silbrigen Rauchfahnen aus den Kaminen emporschlängeln und sich schwebend in der Luft verlieren, das lebhafte Rot der Dachziegel schob sich noch einmal grüßend vor das stille Blau ...
Als sie ins Dorf kamen, war es schon nach Mitternacht. Ein großer, weithin funkelndes Licht versprühender Stern war am Osthimmel aufgegangen.
Vor Memeds Haus trennten sie sich. Mustafa war todmüde und verwünschte den ganzen Ausflug. Memed aber war glücklich, als er sich mit schleppenden Füßen der Haustür näherte. Er lehnte sich an die Mauer und überlegte, ob er eintreten solle oder nicht. Dann kehrte er um, tappte vorsichtig in der Finsternis zwischen den Hecken, bis er Atem holend vor einem Haus unter einem Maulbeerbaum stehenblieb, dessen Zweige wie ein Schirm ausgebreitet waren. Dann schlug er sich seitwärts ins Dunkel einer Hecke. Dort legte er sich nieder. Nach und nach wich die Müdigkeit von ihm.
Es gibt einen Vogel, zartgliedrig, mit sehr langen Beinen und von der grünlichen Farbe von Bäumen, die man durch Rauch sieht. Sein Hals ist so lang, daß der Schnabel nicht mehr zum Körper zu gehören scheint. Man findet ihn nur am Wasser. Die Bauern von Değirmenoluk nennen ihn wegen seines Rufes »Diwlik«. Der eigenartige Reiz dieses Vogelrufs liegt in dem kurzen Schlußton. Memed konnte ihn genau nachahmen. jetzt stieß er, auf der Erde liegend, mehrmals den Ruf des Diwlik aus, den Blick auf die Tür des nahen Hauses geheftet. Nichts rührte sich. Er wurde unruhig. Wieder und wieder pfiff er. Endlich wurde die Tür leise geöffnet. Das Herz klopfte ihm bis zum Zerspringen. Ein Schatten kam langsam auf ihn zu. Zusammen glitten sie weiter ins Dunkel hinein, bis sie im Dunkel des Buschwerks geborgen waren.
»Hatçe«, flüsterte er, die Hand nach ihr ausstreckend.
»Liebster«, sagte sie, »ich habe die Straße nicht aus den Augen gelassen ... «
Einer spürte des anderen Wärme, den heißen Hauch seines Atems. Sie klammerten sich aneinander. Wie eine kühle, sanfte Welle glitt die Seide im Dunkel aus Memeds Hand in Hatçes Hände. Eine ganze Welle hielten sie sich so stumm umschlungen. Hatçe begann von der aus dem Boden aufsteigenden Kälte zu zittern. Sie streckte die Beine aus. Um sie war der Geruch von frischem Gras. Der Kopf schwindelte ihr vor Glück. »Ich könnte keinen Tag leben, wenn du nicht wärst. Zwei Tage warst du fort. Die Welt wurde mir zu eng ... «
»Ich hätte es auch nicht länger ausgehalten«, flüsterte Memed. »Und die Stadt?«
»Hör zu, ich habe dir eine Menge zu erzählen. Alles ist anders dort. Ich habe da einen kennengelernt, den Korporal Hasan, der war sogar schon in Istanbul. Aus Maras ist er. Dieser Korporal Hasan sagte mir: 'Nimm doch deine Braut mit und geh in die Çukurova!' Dort soll es keinen Aga geben. Korporal Hasan sagt, er wird dort ein Feld für mich finden, Ochsen, ein Haus ... 'Entführe doch einfach dein Mädchen', hat er gesagt. Du - das ist ein Mann, auf den ist Verlaß. Er wird alles für uns tun. Wenn wir einfach davonlaufen ... «
»Wirklich, meinst du?«
»Einen langen, schneeweißen Bart hat er. Glaube mir, er wird schon dafür sorgen, daß uns nichts fehlt. 'Bursche', hat er gesagt, 'nimm deine Braut, entführe sie und komm!' 'Abgemacht', habe ich geantwortet, 'in zehn Tagen komme ich mit ihr!'«
»In zehn Tagen?«
»Ja ... So gut kann nicht einmal ein Vater für uns sorgen.«
»Könnten wir nicht gleich gehen?« fragte Hatçe zaghaft.
»In zehn Tagen ... «
»Ich habe Angst.«
»Mir macht meine Mutter Sorgen. Abdi wird sie peinigen bis aufs Blut.«
»Laß sie doch mitkommen, wenn Korporal Hasan dort für uns sorgen will!«
»Ich werde ihr alles erzählen. Vielleicht kommt sie dann mit.«
»Aber ich habe Angst. Vor Abdi. Sein Neffe ist dauernd bei uns im Haus. Immer hat er etwas mit Mutter zu tuscheln. Gestern erst ... « Lange blieben sie still. Nur ihr Atem war zu hören und
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