Memento - Die Feuerblume: Band 2 (German Edition)
halten sie gar nicht erst an. Oben Eins ist die Heimat der Massen, mit großen Apartmentgebäuden, Schulen, ein paar Erholungsgebieten und Einkaufsmöglichkeiten und dem psychatrischen Therapiezentrum, in das man auch Lyda gesperrt hatte.
Auf Zero steigt das Ehepaar gemächlich aus und schirmt Vinty und Partridge weiterhin meisterhaft ab, bis sie die glatte, glänzende Batterie der Aufzüge hinter sich gelassen haben. Als die beiden rechts abbiegen, zum Medizinischen Zentrum, zweigen Partridge und Vinty links ab, Richtung Akademie.
Die Akademie ist nur noch ein paar kurze Blöcke entfernt. Neben der Akademie und dem Medizinischen Zentrum sind auf Zero auch Farmen und Weideflächen untergebracht, Unterkünfte für Arbeiter niedrigster Klasse, Ausrüstungslager, Anlagen zur Nahrungsmittelverarbeitung und Arzneimittelproduktion, medizinische und wissenschaftliche Labors, das Hauptquartier der Sicherheitskräfte und der Zoo, die Käfigreihe . Dürfte man bis ans andere Ende der Felder laufen, würde man irgendwann auf die eigentliche Wand des Kuppelbaus treffen – auf die Mauer, die das Kapitol von der Außenwelt trennt.
Die Prüfungszeit vor den Weihnachtsferien ist angebrochen. In der Akademie ist es ruhig: keine Musik nach sieben Uhr abends, nur noch gedämpfte Unterhaltungen auf den Fluren, kein Sport, keine Spiele. Trotzdem spürt Partridge, wie lebendig dieser Ort ist, wie aufgeladen mit Erinnerungen. Ein merkwürdiges Gefühl. Als er den ersten Gang betritt, kehrt plötzlich sein altes Ich zu ihm zurück – vor allem wegen des Geruchs: schwitzende, ungestüme Körper; Gummikügelchen, die von den Kunstrasenflächen hereingetragen werden; Holzpolitur, die in die Böden und Geländer massiert wurde; ätzendes Putzmittel. Er atmet tief ein.
Ist das sein Zuhause?
Nein, aber es ist ein Teil von ihm. Es ist seine Kindheit, sozusagen. Er kam schon mit zwölf Jahren in die Akademie, früher als andere, eine Ausnahme. Damals war er kaum größer als Vinty Firth, der ihn jetzt einen Flur und noch einen Flur hinunterführt. Als Partridge zum ersten Mal durch diese Flure lief, war er unschuldig – ein Kind, das sich jeden Abend das Märchen von der Schwanenfrau aufsagte, das er von seiner Mutter kannte. Und jetzt?
Nur die fahle Sicherheitsbeleuchtung erhellt die Korridore. Mit schnellen Schritten marschieren sie durch den Gang mit den Ölgemälden früherer Direktoren. Partridge entdeckt den Direktor, der im Amt war, als Sedge angeblich ums Leben gekommen war. Er bestellte Partridge in sein Büro und sagte zu ihm: »Das wird schon wieder, mein Sohn. Er reist nicht mit uns ins Neue Eden, aber dafür ist er schon jetzt in Gottes Paradies.« Gottes Paradies – das Gegenstück zur Neuerfindung seines Vaters? Damals wusste Partridge noch nicht, wie gern sein Vater Gott spielt.
Am liebsten würde Partridge die Tür zu seinem alten Wohnheim aufstoßen, den Flur hinuntersprinten, im vollen Lauf das Exit-Schild unter der Decke abklatschen – eine alte Angewohnheit –, und kurz den Kopf in Arvin Weeds Zimmer stecken: Kann ich nachher deine Aufzeichnungen sehen? , bevor er in sein eigenes Zimmer schlendert, wo Hastings gerade vor dem Spiegel steht und sich die nassen Haare kämmt. Er will sich in seine Koje werfen und Hastings zu einem Ballspiel auf dem Gemeinschaftshof überreden, obwohl Hastings eben erst geduscht hat. Aber es bringt nichts, sich das alles auszumalen. Nichts davon existiert mehr.
»Wohin gehen wir, Vinty?«, fragt Partridge.
»Nach unten«, antwortet Vinty, als wäre damit irgendwas geklärt.
Sie passieren die Büros der Lehrer. Vorhänge verdecken die Fenster, doch Partridge sieht Mr Glassings’ alte Tür. Als er den Namen auf der Metallplakette liest, überflutet ihn pure Erleichterung. Vielleicht, ganz vielleicht ist Glassings noch hier.
Auch die Labore lässt Vinty links liegen, bis sie sich schließlich dem Theater nähern. Vinty öffnet eine Tür, die hinter die Bühne führt, und geht eine kurze Treppe hinauf. Partridge war noch nie hinter der Bühne. Er hat nie bei Theaterstücken mitgemacht, im Chor gesungen oder in einer Band gespielt. Er hat keine Preise gewonnen. Aber Lyda war im Chor. Als sie damals im Frühlingskonzert gesungen hat, ist sie ihm zum ersten Mal aufgefallen. Sie war eine unter mindestens zwei Dutzend Mädchen, aber sie war anders. Beim Singen hat sie den Kopf schief gelegt und die Augen geschlossen, als würde sie die Musik auf eine Weise spüren, die den anderen
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