Memento - Die Feuerblume: Band 2 (German Edition)
erfahren, was geschehen ist.
Fignan surrt. Harzduft erfüllt die Luft. »Hast du ein Messer?«, schreit sie.
Er piept.
Kurz darauf spürt sie, wie er auf den Ranken herumsägt. Als er die erste durchtrennt hat, lockert sich eine Spirale um Pressias Bein und rutscht ab.
Fignan widmet sich der Ranke um ihren gesunden Arm. Er sägt sie durch. Endlich kann Pressia ihr Messer aus dem Gürtel ziehen und sich ebenfalls ans Werk machen. Als sie merkt, wie sich eine neue Ranke um ihren Stiefelschaft legt und das Leder blitzschnell zusammenschnürt, dreht sie sich um und schlägt sie entzwei.
Sekunden später kauert sie auf den Knien, dann ist sie fast wieder auf den Beinen. Eine flinke Ranke peitscht durch die Luft und windet sich um ihr Handgelenk, wo der Puppenkopf in die Haut übergeht. Pressia stellt sich vor, wie der Efeu die Puppe erdrosselt, und für einen Moment versteinert sie – doch dann schiebt sie das Messer zwischen Puppenkopf und Ranke und schneidet sich los. Als Fignan den letzten Strang durchbricht, der sie noch an den Boden schnürt, stolpert Pressia nach vorne. Sie ist frei.
Zischend zieht sich der Efeu zurück.
Pressia packt Fignan und rennt, so schnell sie kann. Sein Licht springt kreuz und quer über die Landschaft. Auch als sie das Ende der Bäume erkennen kann, sprintet sie weiter. Sie hält erst inne, als der Wald weit hinter ihr liegt. Sie steht mitten auf einem Feld.
Hinter einem leeren Landstreifen erkennt sie die fernen Überbleibsel eines massigen Gebäudes. Hohe, bröckelnde Außenwände, die im Nichts enden. Auch an diesen Mauern ist der Efeu emporgeklettert, um alles einzuhüllen, was geblieben ist – vielleicht um es zu verschlingen.
Pressias Lunge japst verzweifelt nach Luft. Sie stellt Fignan ab, stützt sich auf die Knie und versucht, wieder zu Atem zu kommen.
»Wir haben Zeit verloren«, stöhnt sie. »Wie lange noch?«
»Fünf Stunden und zwölf Minuten.«
»Das können wir noch schaffen.« Doch Pressia fühlt sich schwach. Kleine Risse durchziehen ihre Kleidung, überall sickern Bluttropfen aus ihrer Haut, und jeder Dornenkratzer schmerzt wie eine brennende Schwellung. »Sekunde noch«, flüstert sie.
Ein Zittern erfasst sie. Ihr Kopf brummt, als würden Tausende Bienen zwischen ihren Ohren herumschwirren. Ihre Augen trüben sich ein. Als sie den Blick fokussiert, starrt sie auf ein kleines Kleebüschel mit wächsernen Blättern. Sie dreht Fignan herum, bis sein Licht auf die Blätter fällt. Die Asche, die sich auf dem Klee abgesetzt hat, ist so fein, so seidig, dass das Grün der Blätter noch durchscheint. Auf den Blättern sitzen zahllose winzige Insekten, eine Art Zecken mit harten, hellroten Panzern.
Während die Insekten auf ihren zerbrechlichen Beinen über die Blätter klimpern, öffnen und schließen sie winzige Zangen – offenbar schaufeln sie Asche. »Reinigen sie die Blätter, um sich einen Weg zu bahnen?«, fragt Pressia. Nein – es sieht aus, als würden sie die Asche fressen. Ihre Körperform wirkt zweckdienlich und effizient, absolut symmetrisch. Ein Insekt gleicht dem anderen. »Was, wenn sie genau dazu gezüchtet wurden?« Pressia richtet sich auf. Ihr ist kalt und unwohl.
Fignan piept.
»Wenn das stimmt, haben einige Iren überlebt. Sie sind hier, irgendwo. Und sie sind intelligent.«
EL CAPITÁN
Brüder
Da ist irgendetwas an seinem Mund. Es stößt gegen seine Lippen, immer fester, immer aufdringlicher. Er wischt es weg. Kalte Wassertropfen landen auf seinem Gesicht. Metall scheppert gegen Metall.
El Capitán öffnet die Augen. Er liegt eingerollt auf der Seite.
Sein Kopf. Er hebt die Hand und ertastet eine Kompresse. Darunter scheint ein tiefes Loch zu klaffen, ein Loch in seinem Schädel. Scharfer, bohrender Schmerz – hat man ihm mit einer Axt den Kopf gespalten?
Am Ohr spürt er Helmuds nervösen, schwachen, gehetzten Atem. Er ist nicht allein. Er ist nie allein.
Sie befinden sich im Luftschiff.
Das Luftschiff ist am Boden.
Sie liegen in der kegelförmigen Schnauze des Cockpits. El Capitáns verwaschener Blick stellt auf die andere Seite des Fensters scharf – plattgedrücktes Gras und Efeu, wie gepresste Blumen in einem Buch. Er erinnert sich an die alten Bücher seiner Großmutter. Kaum nahm man eines in die Hand, glitt eine violette Blume heraus, eine geplättete, trockene Blüte, die tänzelnd auf dem Boden landete wie ein kleines Geschenk, ein kleiner, geheimer Liebesbrief.
Er hat Pressia geküsst.
Die Erinnerung
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