Memento - Die Feuerblume: Band 2 (German Edition)
Augenwischerei, man kann sie nicht öffnen, und draußen ist es immer genauso warm wie drinnen. Außer im Winter, wenn die Außentemperatur um fünf Grad reduziert wird, um den Wechsel der Jahreszeiten nachzubilden.
Vor dem Fenster liegt ein kristallklares, blaues Meer. Kleine Wellen brechen sich auf goldenem Sand. Bis auf einen alten Mann mit einem Metalldetektor ist der Strand leer. In Partridges Kindheit liefen am Strand auch alte Männer mit Metalldetektoren herum, mit schwarzen Socken und dicken Gummischuhen, wie sie auch dieser Mann trägt. Der Strand sieht aus wie aus einer Werbung für einen Karibikurlaub.
Doch auf Partridges kleinem Finger steckt die Fiberglaskappe. Er pult sie herunter und betrachtet den Stummel – der Finger ist zu drei Vierteln nachgewachsen. Er versiegelt sich mit eigener Haut.
Also befindet er sich im Kapitol.
Irgendetwas kratzt an der weichen Haut unter seinem Kinn. Er ertastet ein eigenartiges Halsband aus dünnem, leicht verformbarem Metall, das sich fest um seine Kehle schließt. An dem Halsband hängt ein fünf mal fünf Zentimeter großes, elektrisch vibrierendes Kästchen mit einer ungleichmäßigen Vertiefung auf der Oberfläche – ein Schlüsselloch?
Er ist ein Gefangener.
Es klopft an der Tür. Kurz fragt er sich, ob es Lyda sein könnte. Jetzt ist alles möglich.
»Herein«, sagt er.
Die Tür, die genauso kunstvoll gestaltet ist wie das Bett, öffnet sich, und eine Frau in pinkem Rock und weißer Bluse tritt ein. Sie trägt eine Kette aus bunten Perlen. Partridge erinnert sich an die eingewachsenen Perlenketten der Mütter, die fleischigen Tumoren gleichen.
Die Frau stellt ein Tablett mit Essen auf den Nachttisch: Eier mit Speck, ein kräftiges Glas Orangensaft mit Fruchtfleischschlieren und eine glitzernde Scheibe Toast, die anscheinend mit Butter und Honig bestrichen ist. Partridge hat Hunger, doch er traut seinem Magen nicht.
Sie beugt sich über ihn, als würden sie sich seit Langem kennen, und legt ihm eine kühle Hand auf die Stirn. »Partridge! Dir geht es besser!« Dann lächelt sie, als wäre er gerade von einer langen Reise zurückgekehrt.
Ihr Gesicht kommt ihm tatsächlich bekannt vor. Hat er sie als Kind bei offiziellen Anlässen gesehen, als sein Vater noch öfter Ansprachen gehalten hat? Partridge musste jedes Mal mitkommen.
»Ja.« Als er schlucken muss, schmerzt seine Kehle. »Aber woher kennen wir uns noch mal?«
»Wusste ich’s doch, dass du dich an mich erinnerst! Er wollte es mir ja nicht glauben, aber ich hab gesagt: Wart’s ab!« Sie legt den Kopf schief. »Wir kennen uns schon sehr lange, Partridge, aber wir wurden uns nie vorgestellt, also nicht offiziell. Ich heiße Mimi. Ich habe mich hier um dich gekümmert.« Sie hockt sich auf die Bettkante. »Meine Tochter hat auch geholfen. Sie übt unten Klavier.«
Partridge hat keine Ahnung, was Mimi da redet. Sie hat sogar sehr viel geredet, aber er versteht immer weniger. »Wo bin ich hier?«
Sie lächelt. »Wo wärst du denn gern?«
Vor Müdigkeit reibt er sich die Augen. »Ich will wissen, wo ich bin.«
Mimi tänzelt zur Tür. Ihre Hände flattern hoch über ihrem Kopf, ihr Rock wischt um ihre Unterschenkel. »Hör doch!«, ruft sie. »Eine Beethoven-Sonate. Hörst du es?« Ja, Partridge hört die klassische Musik. »Sie nimmt seit Jahren Unterricht«, erzählt Mimi. »Sie ist kein Naturtalent, aber eine wahre Perfektionistin, und damit kann man so gut wie alles wettmachen, nicht wahr?«
Da ist Partridge sich nicht so sicher, und deshalb antwortet er lieber nicht. »Wo ist mein Vater?«
»Er arbeitet. Er arbeitet ja so hart. Tagelang!«
»Woher kennst du ihn?«
»Ich kenne ihn schon seit Jahren, Partridge. Mein Gott, ich habe dich aufwachsen sehen! Aber natürlich nur aus der Ferne. Meine Tochter und ich, wir haben uns in den Randbezirken deines Lebens aufgehalten, könnte man sagen. Du weißt schon.«
Nein , denkt Partridge, ich weiß gar nichts . Er muss sich konzentrieren. Er muss Arvin Weed und Glassings finden – zwei Menschen, die auf der Liste der vertrauenswürdigen Personen standen, die seine Mutter ihm gezeigt hat.
»Hast du es nie gespürt?«, redet Mimi weiter. »Ein mütterlicher Blick, der immer bei dir war? Ich habe ihn angefleht, dich einzulassen, immer und immer wieder. Er hat gesagt, das würde zu viel Unruhe stiften. Aber jetzt bist du ja hier!« Mit abgehackten Schritten trippelt sie zum Bett, geht in die Knie und krallt sich in die Tagesdecke, als wäre
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