Memento - Die Überlebenden (German Edition)
sehr verständnisvoll.«
»Es ist lustig, dich in einer OSR-Uniform zu sehen«, sagt Bradwell. »Sieh sich einer diese Armbinden an. Bist du jetzt Offizier? Die OSR – das sind wirklich nette Leute. Sie sind diejenigen, die wirklich verständnisvoll sind!«
»Ich wurde entführt, und sie haben mich gezwungen, diese Uniform anzuziehen!«, faucht Pressia. »Glaubst du vielleicht, sie gefällt mir?« Ihre Stimme ist schwach, weil ihr die Uniform in der Tat gefällt – und weil Bradwell es wahrscheinlich weiß.
»Aufhören«, sagt Partridge. »Bradwell hat recht, Pressia. Sie haben uns vor sich hergetrieben, damit wir uns finden. Die Frage ist nur, warum?«
Pressia setzt sich neben Partridge an die Wand. »Es ergibt keinen Sinn«, sagt sie. »Ich verstehe das nicht.«
»Eine Sache verfolgt mich, die die Gute Mutter erwähnt hat«, sagt Bradwell. Er geht in die Hocke und starrt Partridge in die Augen. »Du verheimlichst uns irgendwas. Du bist nicht aufrichtig.«
»Was verheimliche ich?«, entgegnet Partridge aufgebracht. »Ich habe euch alles erzählt! Ich habe mir sogar den Finger abschneiden lassen! Warum hörst du nicht endlich auf?«
Pressia erinnert sich an die Halskette. Sie sucht in ihren Taschen und spürt die harte Form des Schwans, die Umrisse der Flügel. Hatte sie Zeit, den Anhänger zu sichern, bevor sie das Bewusstsein verloren hat? Hat jemand die Kette in ihrer Hand gefunden und sie in ihre Tasche gesteckt? Sie ist erleichtert, dass sie immer noch da ist. Sie angelt sie hervor und hält sie in der Hand. »Habt ihr die hier für mich zurückgelassen? Als Zeichen?«
Partridge nickt. »Du hast sie gefunden!«
Sie hat Ich-erinnere-mich mit ihm gespielt und Erinnerungen mit ihm ausgetauscht. Sie hat ihm von dem Pony zu ihrem Geburtstag erzählt und er hat ihr von einer Gutenachtgeschichte erzählt über einen bösen König und seine Schwanenfrau. Eine Schwanenfrau … wie der Anhänger mit dem blauen Juwelenauge. Pressia sieht Bradwell an. »Vielleicht hält er nicht absichtlich was vor uns zurück. Vielleicht weiß er einfach nicht, was wichtig ist und was nicht.«
»Und was ist wichtig?«, fragt Bradwell. »Das würde ich zu gerne wissen.«
»Was ist mit der Schwanenfrau?«, fragt Pressia. »Erzähl mir diese Geschichte.«
***
Partridge hat die Geschichte von der Schwanenfrau nicht mehr laut erzählt, seit er es einmal bei seinem Bruder Sedge versucht hat, kurz nachdem die Bomben gefallen waren. Damals konnte er sich noch genau an das Lachen ihrer Mutter erinnern, doch mit der Zeit wurde die Luft im Kapitol so leer, so hohl, dass er meinte, die Gerüche und Geschmäcke und selbst Erinnerungen würden von einem Schwarzen Loch in seinem eigenen Kopf verschlungen. Aribelle Cording Willux – sämtliche noch so kleine Spuren seiner Mutter verschwanden nach und nach. Er wusste es. Schon eine Woche nach den Explosionen fing er an, den Klang ihrer Stimme zu vergessen. Jetzt hingegen ist er sicher, dass alles wieder zurückkommt, wenn er auch nur einen Ton hört.
»Die Geschichte geht so«, sagt er und erzählt, was seine Mutter ihm selbst erzählt hat vor vielen Jahren, ihm allein. »Bevor sie eine Schwanenfrau wurde, war sie ein Schwanenmädchen. Sie hat einen jungen Mann vor dem Ertrinken gerettet, und er stahl ihr die Flügel. Es war ein junger Prinz. Ein böser Prinz. Er zwang sie, ihn zu heiraten. Er wurde zu einem bösen König.
Der König dachte, er wäre ein guter König, doch das war ein Irrtum.
Es gab auch einen guten König, doch der lebte weit entfernt in einem anderen Land. Die Schwanenfrau wusste noch nicht, dass es ihn gibt.
Der böse König schenkte ihr zwei Söhne. Einer war wie der Vater, ehrgeizig und stark. Der andere war wie sie.«
Partridge ist nervös, und obwohl er sich schwach fühlt, muss er aufstehen und auf und ab gehen. Er ist sich kaum seiner selbst bewusst. Mit seiner unverletzten Hand berührt er Dinge – den Griff einer Schubkarre, eine Rille und Risse in den Wänden aus Betonsteinen. Er hält inne und bittet Pressia um die Kette. Er hält sie, genau wie seine Mutter es ihm gezeigt hat, als sie ihm die Geschichte erzählt hat. Er spürt die scharfen Kanten der Flügel. Er spricht weiter.
»Der böse König nahm die Flügel des Schwans und warf sie in einem Eimer in einen alten, dunklen, vertrockneten Brunnen, und der Junge, der wie die Schwanenfrau war, hörte das Rascheln der Schwingen in der Tiefe. Eines Nachts kletterte er in den Brunnen hinunter und fand
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