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Memento - Die Überlebenden (German Edition)

Memento - Die Überlebenden (German Edition)

Titel: Memento - Die Überlebenden (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julianna Baggott
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kurz bevor ich den Metzgerladen entdeckt habe. Ich schlief tagelang dort, während draußen überall Leute starben. Ich betete zu der Heiligen Wi, und ich überlebte. Also bin ich immer wieder dorthin zurückgekehrt.«
    »Du bist einer von denen, die um Hoffnung beten?«, fragt Pressia.
    »Ich bin einer von denen.«
    »Das ist keine schlimme Lüge«, sagt sie.
    »Nein. Keine schlimme.«
    »Haben deine Gebete gefruchtet? Hast du wieder Hoffnung?«
    Er reibt sich das Kinn. »Wie soll ich das sagen? Seit ich dir begegnet bin, scheint es, als hätte ich mehr Grund zur Hoffnung.«
    Sie spürt, wie sie errötet, doch sie ist nicht sicher, was er meint. Sagt er, dass er auf etwas hofft, das mit ihr zu tun hat? Ist es ein Eingeständnis, dass er sie mag, jetzt, nachdem er schon seine Lüge gestanden hat? Oder meint er etwas ganz anderes? Meint er, dass sie ihn dazu gebracht hat, die Welt mit anderen Augen zu sehen?
    »Aber das ist nicht, was du wolltest«, sagt er. »Du wolltest eine Erinnerung.«
    »Das ist auch okay.«
    »Kannst du denn jetzt schlafen?«
    »Nein.«
    »Also gut. Eine Erinnerung. Muss es eine glückliche Erinnerung sein?«
    »Nein«, antwortet sie. »Ich ziehe inzwischen eine wahre Geschichte einer glücklichen vor.«
    »Okay.« Er überlegt ein paar Sekunden. »Als meine Tante mir sagte, ich solle aus der Garage verschwinden, da gehorchte ich. Ich packte die tote Katze in die Schachtel. Und dann hörte ich den Anlasser – und einen Schrei. Es klang genauso wie mein Vater, wenn er sich den Knöchel aufgeschrammte oder den Rücken verrenkt hatte. Ich redete mir ein, dass es seine Stimme war. Ich schloss die Augen und stellte mir vor, wie mein Vater unter dem Wagen hervorkam mit einem Motor, der als Herz mit seiner Brust verschmolzen war. Wie ein echter Superheld. Ich stellte mir vor, dass er wieder lebendig wurde.« Pressia kann Bradwell vor ihrem geistigen Auge als kleinen Jungen sehen, mit den Vögeln im Rücken, wie er auf dem verbrannten Rasen steht, die tote Katze in der Schachtel zu seinen Füßen. Bradwell schweigt sekundenlang. »Es ist dumm. Ich habe noch nie jemandem diese Geschichte erzählt.«
    Pressia schüttelt den Kopf. »Es ist eine wunderschöne Geschichte. Du hast versucht, dir etwas Großartiges vorzustellen, etwas Neues, etwas aus einer anderen Welt. Du warst noch ein kleiner Junge.«
    »Vermutlich«, sagt er. »Jetzt erzähl du mir eine Geschichte.«
    »Ich erinnere mich nicht an viel aus dem Davor.«
    »Es muss keine Geschichte aus dem Davor sein.«
    »Also schön«, sagt sie. »Nun, da ist etwas, das ich auch noch nie jemandem anvertraut habe. Mein Großvater weiß es, aber er weiß nicht warum.«
    »Was denn?«
    »Ich habe versucht, mir den Puppenkopf abzuschneiden. Als ich dreizehn war. Zumindest habe ich das meinem Großvater erzählt. Er hat mich schnell wieder zusammengenäht. Aber er hat mich nie gefragt, warum ich das gemacht habe.«
    »Hast du eine Narbe?«
    Pressia zeigt ihm die kleine Narbe auf der Innenseite ihres Handgelenks, wo die Puppe in den Arm übergeht. Die Haut dort ist durchzogen von zarten blauen Adern und fühlt sich gummiartig an.
    »Hast du versucht, ihn abzutrennen, oder …«
    »Oder«, sagt Pressia. »Vielleicht war ich müde. Ich wollte nicht mehr verloren sein. Ich vermisste meinen Vater und meine Mutter und die Vergangenheit – vielleicht auch, weil ich nicht genug Erinnerungen hatte, die mir hätten Gesellschaft leisten können. Ich fühlte mich so allein.«
    »Aber du hast es nicht getan.«
    »Ich wollte weiterleben. Das fand ich heraus, sobald ich das Blut sah.«
    Bradwell richtet sich auf und streicht mit den Fingerspitzen über die Narbe. Er sieht sie an, als wollte er sich ihr Gesicht einprägen, ihre Augen, ihre Wangen, ihre Lippen. Normalerweise hätte sie den Blick abgewendet, doch sie kann nicht. »Die Narbe ist wunderschön«, sagt er.
    Ihr Herz rast. Sie zieht die Puppenfaust an ihre Brust. »Wunderschön? Es ist eine Narbe«, sagt sie.
    »Ein Zeichen des Überlebens.«
    Bradwell ist der einzige Mensch, der so etwas sagen würde. Sie fühlt sich ein bisschen kurzatmig. Sie kann nur flüstern. »Hast du niemals Angst?« Sie meint nicht all das, vor dem sie Angst haben sollten – die Rückkehr in die Deadlands am nächsten Tag, die Dusts, die dort hausen. Sie meint seine Furchtlosigkeit jetzt und hier, seinen Mut, die kleine Narbe wunderschön zu nennen. Hätte sie nicht Angst, würde sie ihm gestehen, dass sie froh ist zu leben, allein,

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