Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Memento - Die Überlebenden (German Edition)

Memento - Die Überlebenden (German Edition)

Titel: Memento - Die Überlebenden (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julianna Baggott
Vom Netzwerk:
mir denken.«
    Pressia nimmt den Chip in die gesunde Hand. Ihre Augen füllen sich mit Tränen. Sie denkt die Worte Mutter – Gutenachtlieder – und Vater – warmer Mantel. Pressia ist ein roter Punkt auf einem Schirm, pulsierend wie ein schlagendes Herz. Ja, das Kapitol hat von ihrer Existenz gewusst. Sie stand unter Beobachtung, vielleicht ihr ganzes Leben lang. Aber vielleicht haben auch ihre Eltern sie beobachtet.
    Abrupt fragt Bradwell: »Ist deine Mutter in die Kirche gegangen?«
    »Wir haben jeden Sonntag die Karte durchgezogen«, antwortet Partridge. »Wie alle anderen auch.«
    Pressia erinnert sich an einen Ausdruck, den Bradwell im Verlauf seines Mini-Vortrags benutzt hat. Karten durchziehen. Die Überlagerung von Kirche und Staat. Kirchgänger hatten Karten. Der Besuch der Messe wurde kontrolliert und registriert.
    »Nicht alle sind in die Kirche gegangen«, sagt Bradwell. »Beispielsweise alle diejenigen, die sich weigerten, die Kirche weiter zu besuchen, nachdem sie vom Staat übernommen wurde, und die dann in ihren Betten im Schlaf erschossen wurden.«
    »Warum fragst du?«, will Partridge wissen.
    Bradwell setzt sich wieder. »Weil die Geburtstagskarte eine religiöse Botschaft enthielt. Was stand da noch mal, Partridge?«
    »Bleib immer im Licht. Folge deiner Seele. Möge sie Flügel haben. Du bist mein Leitstern, wie der, der im Osten aufging und die Weisen aus dem Morgenland führte.«
    »Der Stern im Osten. Die Weisen aus dem Morgenland. Sie kommen in der Bibel vor«, sagt Pressia. Ihr Großvater kann ganze Abschnitte der Bibel auswendig. Er hat sie oft bei Beerdigungen vorgetragen.
    »War das typisch für deine Mom?«, fragt Bradwell.
    »Ich weiß nicht«, antwortet Partridge. »Sie hat an Gott geglaubt, schätze ich, aber sie sagte auch, dass sie das von der Regierung sanktionierte und überwachte Christentum ablehnte, gerade weil sie Christin war. Die Regierung hätte ihr die Heimat und Gott gestohlen. ›Und dich auch‹, hat sie mal zu meinem Vater gesagt. ›Dich hat sie mir auch gestohlen.‹« Partridge lehnt sich zurück, als würde er sich gerade erst daran erinnern. »Eigenartig, dass diese Worte die ganze Zeit in meinem Unterbewusstsein waren. Ich kann beinahe hören, wie sie es sagt.«
    Pressia wünscht, sie hätte Worte von ihrer Mutter, die sie aus ihrer Erinnerung ausgraben kann. Eine Stimme. Wenn ihre Mutter die Frau ist, die das Schlaflied singt, dann hätte sie etwas – den Text, die Worte von jemand anderem.
    »Also ist sie vielleicht ehrlich gemeint«, sagt Bradwell.
    »Und wenn sie ehrlich gemeint ist?«, fragt Partridge.
    »Dann ist sie nutzlos«, sagt Bradwell.
    »Wenn sie ehrlich ist, dann ist das gemeint, was draufsteht«, sagt Pressia. »Das ist nicht nutzlos.«
    »Für uns im Augenblick schon«, entgegnet Bradwell. »Deine Mutter wollte, dass du dich an bestimmte Dinge erinnerst. Zeichen. Verschlüsselte Botschaften. Die Kette. Ich hatte gehofft, die Karte könnte uns zu ihr führen. Aber vielleicht war es ihre Art, Lebewohl zu sagen. Dir einen Rat mitzugeben für dein ganzes späteres Leben.«
    Sie schweigen ein paar Minuten. Pressia lehnt sich wieder gegen die kühle Wand. Wenn es der Ratschlag ihrer Mutter war, was hat sie damit sagen wollen? Folge deiner Seele. Möge sie Flügel haben. Bleib immer im Licht. Sie stellt sich vor, ihre Seele hätte Flügel. Sie stellt sich vor, wie sie dieser Seele folgt. Wohin würde sie sie führen? Es gibt keinen Ort, zu dem sie gehen kann. Sie sind umgeben von Meltlands und Deadlands. Es gibt auch kein reines Licht mehr – alles liegt unter einem dreckigen Ascheschleier. Was, wenn ihre Mutter wirklich noch lebt, irgendwo? Wie legt man Spuren, wenn man weiß, dass die Welt ausradiert wird?
    »Du bist mein Leitstern, wie der, der im Osten aufging und die Weisen aus dem Morgenland führte«, wiederholt Partridge. »Ob sie will, dass wir nach Osten gehen?«
    Bradwell zieht eine Karte aus der Innentasche seiner Jacke – die gleiche Karte, die sie benutzt haben, um die Lombard Street zu finden. Er breitet sie auf dem Boden aus. Das Kapitol befindet sich im Norden, umgeben von kahlem Land, das in aufkeimende Wälder übergeht, bevor die Stadt anfängt. Die Meltlands sind ehemalige geschlossene Wohnanlagen, die die Stadt im Osten, Süden und Westen umgeben. Hinter diesem Ring erstrecken sich die Deadlands.
    »Die Hügel dort im Osten waren ein Nationalpark«, sagt Bradwell.
    »Und in dem Märchen gräbt sich die Schwanenfrau in

Weitere Kostenlose Bücher