Memento - Die Überlebenden (German Edition)
weil sie diesen Augenblick mit ihm teilen kann.
»Ich?«, sagt Bradwell. »Ich habe so viel Schiss, dass ich mich fühle wie mein Onkel unter dem Wagen, mit den Kolben in der Brust. Ich fühle zu viel. Es ist, als würde ich von innen heraus zerstampft. Verstehst du?«
Sie nickt. Für einen Moment schweigen beide. Sie hören Partridge im Schlaf murmeln.
»Also …«, sagt Pressia.
»Also?«
»Also warum hast du nach mir gesucht, wenn nicht wegen meinem Großvater?«
»Du weißt warum.«
»Nein, ich weiß es nicht. Sag du es mir.« Sie sind sich so nah, dass sie die Hitze seines Körpers spürt.
Er schüttelt den Kopf. »Ich habe etwas für dich«, sagt er und greift nach seiner Jacke. »Wir waren bei dir zu Hause. Dein Großvater war nicht mehr da.«
»Ich weiß«, sagt Pressia. »Ich weiß. Er ist im Kapitol.«
»Sie haben ihn?«
»Es ist okay. Er ist in einem Krankenhaus …«
»Trotzdem«, sagt Bradwell. »Ich bin nicht sicher …«
Sie will jetzt nicht über ihren Großvater sprechen. »Was hast du für mich?«, fragt sie.
»Ich habe das hier gefunden.«
Er zieht etwas aus seiner Jacke und legt es ihr auf den Bauch, auf die Stelle, wo ihre Rippen zusammentreffen.
Es ist einer ihrer Schmetterlinge.
»Er brachte mich zum Nachdenken«, sagt er. »Wie kann es etwas so Kleines und Schönes in dieser Welt noch geben?«
Pressia spürt, dass sie noch mehr errötet. Sie nimmt den Schmetterling in die Hand und hält ihn hoch, sodass das Licht durch die zerbrechlich dünnen Flügel schimmert.
»All die Verluste summieren sich«, sagt er. »Du kannst nicht den einen spüren ohne die anderen, die vorher waren. Aber das dort – es fühlt sich an wie ein Gegengift. Ich kann es nicht erklären, aber es ist, als würde sich jemand dagegen wehren.«
»Sie waren reine Zeitverschwendung, wenn du mich fragst. Sie fliegen nicht mal. Man kann sie aufziehen, und sie flattern mit den Flügeln, aber das ist alles.«
»Vielleicht hatten sie bis jetzt nur keinen Ort, zu dem es sich zu fliegen gelohnt hätte.«
LYDA
Kleine blaue Schachtel
Um die Zeit totzuschlagen, flicht Lyda ihre Sitzmatte wieder und wieder neu, doch das Ergebnis stellt sie nie zufrieden. Sie summt die Melodie von »Morgen kommt der Weihnachtsmann«.
Niemand ist sie besuchen gekommen, nicht ihre Mutter, keine Ärzte, niemand. Die Wachen bringen Essen auf Tabletts, das ist alles.
Die Rothaarige ist verschwunden, nachdem sie ihre Botschaft in das kleine rechteckige Fenster in der Tür getippt hatte. Vielleicht war sie ja doch verrückt gewesen. Wer hätte gedacht, dass es so viele Leute gab, die glaubten, sie könnten das Kapitol stürzen? Sag es ihm . Wem – Partridge? Denkt sie vielleicht, Lyda könnte mit ihm kommunizieren? Und warum sollte Lyda ihm diese Nachricht überbringen, selbst wenn sie könnte? Die Rothaarige muss verrückt sein. Manche Leute hier sind tatsächlich verrückt. Deshalb gibt es diese Anstalten. Lyda ist eine Ausnahme, nicht die Regel.
Am nächsten Morgen war ein anderes Mädchen in der Zelle der Rothaarigen. Eine neue, gelähmt vor Angst. Und Lyda war insgeheim erleichtert – was hätte sie der Rothaarigen nach dieser Botschaft schreiben sollen? Wenn sie jemals wieder hier rauswollte, dann durfte sie sich nicht dabei sehen lassen, wie sie sich mit Irren verbrüderte, ganz bestimmt nicht mit revolutionären Irren. Es gab keine Revolutionäre im Kapitol. Sie existierten nicht. Das war eine der schönen Seiten am Leben hier. Sie mussten sich keine Gedanken machen über diese Art von Konflikten, wie in der Zeit vor den Bomben – nicht mehr.
Lyda ist auch nicht mehr zur Beschäftigungstherapie abgeholt worden. Sobald man ihr das Privileg geschenkt hat, hat man es ihr auch schon wieder genommen. Sie hat die Wachen gefragt, wann sie wieder hin darf, doch die Wachen wissen nichts. Sie hätte nach weiteren Informationen fragen können, doch das scheint ihr zu gefährlich. Damit würde sie zugeben, dass sie nichts weiß. Und sie will den Eindruck machen, dass sie Bescheid weiß.
Heute jedoch erscheinen zwei Wachen vor dem Essen und nehmen sie mit zum Medizinischen Zentrum.
»Ist meine Verlegung durch?«, fragt Lyda.
»Das wissen wir nicht«, antwortet eine der beiden. Lyda hat die Frau noch nie gesehen. Ihre Partnerin wartet draußen vor der Tür. »Im Augenblick haben wir keine weitergehenden Informationen. Wir wissen lediglich, wo wir dich abliefern sollen.«
Bevor sie gehen, legen sie Lyda eine Plastikfessel an.
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