Memento - Die Überlebenden (German Edition)
Einzige, wozu er imstande ist. Kein Wunder, dass die Frau ihm befohlen hat, den Mund zu halten, denkt Pressia. Er ist ein Schreihals. Plötzlich springt er auf und rennt zu der verschlossenen Tür.
»Geh nicht da raus!«, ruft Pressia ihm hinterher.
Doch der kleine Junge ist zu flink. Er entriegelt die Tür, schiebt sich hindurch und flitzt davon.
»Wer war das?«, will der Typ wissen.
»Das weiß ich auch nicht«, sagt Pressia und steht auf. Jetzt sieht sie, dass er auf einer klapprigen Faltleiter steht, die runter in den Keller führt. Der Keller ist offensichtlich voller Leute.
»Ich kenne dich«, sagt der Junge jetzt. »Du bist die Enkelin vom Fleisch-Schneider.«
Sie bemerkt zwei Narben auf seiner Wange – vielleicht Nähte, die ihr Großvater gemacht hat. Die Narben sind nicht sehr alt, höchstens ein Jahr oder zwei. »Ich wüsste nicht, dass wir uns schon mal getroffen hätten.«
»Haben wir auch nicht«, erwidert er. »Außerdem war ich ziemlich angeschlagen.« Er zeigt auf sein Gesicht. »Du erkennst mich vielleicht nicht, aber ich erinnere mich, ich habe dich dort gesehen.« Er sieht sie auf eine Weise an, die sie erröten lässt. In seinen dunklen Augen ist tatsächlich etwas, das ihr vertraut scheint. Sie mag sein Gesicht. Es ist das Gesicht von jemandem, der sich nicht unterkriegen lässt. Das Gesicht eines Überlebenden. Scharfe Gesichtszüge und die beiden langen, gezackten Narben. Seine Augen – es ist etwas in ihnen, das ihn zugleich wütend und süß aussehen lässt.
»Bist du wegen der Versammlung hier? Wir fangen nämlich jetzt an. Es gibt Essen.«
Es ist ihr letztes Mal draußen, bevor sie sechzehn wird. Ihr Name steht auf der Liste. Ihr Herz hämmert immer noch wie wild. Sie hat den kleinen Jungen gerettet. Sie fühlt sich mutig. Und fast verhungert. Der Gedanke an Essen gefällt ihr. Vielleicht ist genug da, dass sie etwas stehlen kann, für ihren Großvater. Unbemerkt.
Ein Heulen ertönt, in nicht allzu großer Entfernung. Die Bestie treibt sich immer noch in der Gegend herum.
»Ja«, sagt Pressia. »Ich bin wegen der Versammlung hier.«
Er lächelt, beinahe, doch dann hält er inne. Er gehört nicht zu der Sorte, die schnell lächelt. Er dreht sich um. »Noch eine mehr!«, ruft er nach unten. »Macht Platz!« In diesem Moment bemerkt Pressia ein Flattern unter seinem blauen Hemd, auf dem Rücken. Wie sich kräuselndes Wasser.
Und dann erinnert sie sich. An den Jungen mit den Vögeln im Rücken.
PARTRIDGE
Metallbox
Die Jungen aus Glassings’ Geschichtskurs sind still, was merkwürdig ist, denn normalerweise bringen Ausflüge sie außer Rand und Band. Diesmal jedoch ist nichts zu hören außer ihren Schritten, die zwischen den alphabetisch geordneten Reihen von Metallkisten widerhallen. Selbst Glassings, der sonst immer etwas zu erzählen hat, ist verstummt. Sein Gesicht wirkt angespannt und erregt, als nage etwas an ihm. Trauer oder Hoffnung? Partridge ist sich nicht sicher. Glassings schlurft davon und verschwindet in einem der Gänge.
Die Luft im Kapitol ist immer trocken und steril, eine statische Gegenwart. Doch hier im Archiv für Persönliche Gegenstände Verstorbener fühlt sich die Luft geladen an, wie elektrisch. Partridge kann es nicht genau beschreiben. Es ist natürlich unmöglich, sagt er sich, dass die Gegenstände der Toten, die hier eingelagert sind, sich von irgendeiner anderen beliebigen molekularen Zusammensetzung unterscheiden, auch wenn es fast so scheint.
Oder vielleicht sind es auch nicht die persönlichen Gegenstände der Toten oder die Luft. Vielleicht sind es die Jungen, die geladen sind, jeder von ihnen auf der Suche nach einem bestimmten Namen. Sie alle haben durch die Bomben Angehörige verloren, genau wie Partridge. Wenn aus dem kompletten Leben dieser Person irgendein Artefakt überdauert hat, dann wird er in eine Metallkiste gepackt, beschriftet, einsortiert, katalogisiert, für immer im Archiv gefangen, um … geehrt zu werden?
Und dann gibt es auch noch die Jungen, die jemanden kannten, der im Kapitol selbst verstorben ist, lange nachdem die Bomben gefallen waren. Auch Partridge hat so jemanden. Wenn man im Kapitol jemanden verliert, dann wird nicht viel Aufhebens darum gemacht. Verluste wie diese müssen in Kauf genommen werden. Wie kann jemand angesichts derart großer globaler Verluste einen privaten Verlust zu persönlich nehmen? Und ernsthafte Krankheiten sind selten – oder besser gesagt, werden sorgfältig
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