Memento - Die Überlebenden (German Edition)
verschlissen. Die Ellbogen sind durchgewetzt. Wo Knöpfe fehlen, hat er Löcher in den Stoff gebohrt und das Gewebe mit Schnüren zugebunden.
Sie erinnert sich an ihre erste Begegnung mit ihm. Sie war auf dem Nachhauseweg vom Herumstreunen und Plündern, als sie durch das Fenster des Friseurladens Stimmen hörte. Sie blieb stehen und sah hinein, und dort lag dieser Junge – zwei Jahre jünger als heute, doch schon damals muskulös und drahtig. Er lag auf dem Tisch, auf der Seite, und ihr Großvater arbeitete an seinem Gesicht. Das Bild war undeutlich, verschwommen vom zersplitterten Fenster, doch Pressia war sicher, kleine schnelle Vogelflügel zu sehen, zerknitterte Federn, kleine orangefarbene Krallen unter einem daunigen Bauch, verschmolzen mit seinem Rücken. Der Junge setzte sich auf, zog sein Hemd an. Pressia ging zur Tür und hielt inne, außer Sicht. Der Junge hatte kein Geld. Er sagte, er könnte ihrem Großvater als Bezahlung eine Waffe geben. Ihr Großvater erwiderte, er könne die Waffe behalten. »Du brauchst sie, um dich selbst zu schützen«, sagte er. »Außerdem wirst du eines Tages groß und stark sein und ich werde immer nur älter und schwächer. Besser, du schuldest mir einen Gefallen.«
»Ich mag es nicht, anderen Gefallen zu schulden«, hatte der Junge geantwortet.
»Tut mir leid, aber so ist es nun mal«, hatte Pressias Großvater gesagt.
Der Junge war eilig aufgebrochen und prompt mit Pressia zusammengestoßen, als er um die Ecke bog. Sie war rückwärtsgestolpert, und er hatte ihren Arm gepackt und sie festgehalten, damit sie nicht fiel. Den Arm mit dem Puppenkopf. Er hatte einen Blick auf den Puppenkopf geworfen und »Tut mir leid« gesagt – ob wegen des Zusammenstoßes oder ihrer Verformung hatte er offengelassen. Sie hatte sich losgerissen. »Schon okay«, hatte sie gesagt, doch sie war verlegen gewesen, weil er wahrscheinlich wusste, dass sie ihn heimlich beobachtet hatte.
Und jetzt ist er hier, der Junge, der es nicht mag, anderen einen Gefallen zu schulden und der ihrem Großvater dennoch verpflichtet ist. Der Junge mit den Vögeln im Rücken.
Er eröffnet die Versammlung. »Wir haben einen neuen Gast«, sagt er und deutet auf Pressia. Alle drehen sich zu ihr um. Wie jeder andere auch haben sie Narben, Verbrennungen, Wucherungen wie dicke Seile. Eines der Gesichter hat an der Kinnlinie eine so stark strukturierte Haut, dass sie aussieht wie Baumrinde. Pressia erkennt ein Gesicht – das von Gorse, der vor einigen Jahren zusammen mit seiner kleinen Schwester Fandra verschwunden ist. Pressia blickt sich suchend nach Fandra um, die feines goldenes Haar hatte und einen verschrumpelten linken Arm. Sie haben immer gewitzelt, dass sie wie geschaffen waren füreinander: Fandra mit ihrer gesunden rechten und Pressia mit ihrer gesunden linken Hand. Doch sie kann Fandra nirgends entdecken. Gorse bemerkt ihren Blick und sieht weg. Pressia wird schwindelig vor Aufregung. Das Untergrund-Netzwerk – vielleicht existiert es nicht nur, sondern funktioniert sogar! Sie weiß jetzt, dass mindestens einer überlebt hat, und alle Leute im Raum sehen älter aus als sie. Ist das hier vielleicht schon der Untergrund? Ist der Junge mit den Vögeln im Rücken der Anführer?
Und was sehen die anderen, wenn sie Pressia mustern? Sie senkt den Kopf, sodass die halbmondförmige Narbe nicht mehr zu erkennen ist, und zieht den Pulloverärmel über den Puppenkopf. Sie nickt der Gruppe zu, hofft, dass sie schnell wieder wegsehen.
»Wie heißt du?«, will der Junge mit den Vögeln im Rücken wissen.
»Pressia«, antwortet sie und bereut es sofort. Sie hätte einen falschen Namen nennen sollen, schließlich weiß sie nicht, wer die Leute sind. Es ist ein Fehler, zu offen zu sein, das wird ihr schmerzhaft bewusst. Sie will abhauen, fühlt sich aber gefangen.
»Pressia«, murmelt er, als würde er den Namen üben. »Okay«, sagt er zur Gruppe gewandt. »Fangen wir an.«
Ein anderer Junge in der Gruppe hebt die Hand. Sein Gesicht ist teilweise von Entzündungen zerfallen, dort, wo das Metall auf seiner Wange, früher einmal Chrom, inzwischen rostübersät, die pickelige Haut berührt. Ein Rand aus verfaulter Haut. Ohne Antibiotika kann er daran sterben. Sie hat schon Leute an so einfachen Entzündungen wie dieser sterben sehen. Manchmal wird an bestimmten Marktständen Medizin angeboten, aber sie ist teuer. »Wann dürfen wir endlich einen Blick in die Truhe werfen?«, fragt er.
»Wenn ich fertig bin, wie
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