Memento - Die Überlebenden (German Edition)
Wohle des Ganzen geopfert habe. Partridge hasst diese Begründungen. Mein Bruder ist tot!, will er ihnen entgegenschleudern. Er war Mörder und Opfer zugleich. Er kommt nie wieder zurück!
Partridge will nicht sehen, was von seinem Bruder übrig geblieben ist. Der Inhalt einer Metallbox. Er könnte es nicht ertragen.
Die Box seiner Mutter ist die nächste. ARIBELLE CORDING WILLUX. Er ist überrascht, dass ihr eine gestattet wurde. Anders als bei Sedge will Partridge an seine Mutter jede Erinnerung haben, die er finden kann, eingequetscht in eine Metallbox oder nicht. Er zieht an dem kleinen Griff, löst die Verriegelung und trägt die Box zu dem schmalen Tisch in der Mitte der Reihe. Er klappt den Deckel hoch. Er hat seinem Vater nicht viele Fragen über die Mutter gestellt; er weiß, dass es ihm unangenehm ist.
In der Box findet er eine Geburtstagskarte mit Ballons auf der Außenseite. Die Karte ist an Partridge gerichtet, geschrieben von der Mutter zu seinem neunten Geburtstag – lange vor seinem neunten Geburtstag. Außerdem eine kleine Metalldose und ein altes Foto von ihm und seiner Mutter am Strand. Was ihn schockiert, ist, wie wirklich diese Gegenstände sind. Sie muss sie schon vor den Bombenangriffen ins Kapitol gebracht haben. Jeder durfte ein paar kleine persönliche Dinge mitnehmen, die von besonderer Bedeutung für ihn waren. Ihr Vater hat gesagt, es wäre nur für den Notfall, natürlich – einen Notfall, der wahrscheinlich niemals eintreten würde. Diese Sachen in der Metallbox muss jedenfalls seine Mutter hergebracht haben.
Es hat sie gegeben. Er denkt an die Fragen, die sein Vater ihm gestellt hat. Hat seine Mutter seine Codierung verändert? Hat sie ihm Pillen gegeben? Wusste sie möglicherweise mehr, als sein Vater ihr zugetraut hätte?
Partridge öffnet die Karte und liest ihren handschriftlichen Gruß:
Bleib immer im Licht. Folge deiner Seele. Möge sie Flügel haben. Du bist mein Leitstern, wie der, der im Osten aufging und die Weisen aus dem Morgenland führte. Einen glücklichen neunten Geburtstag, Partridge! In Liebe, deine Mom
Hat sie gewusst, dass sie nicht bei ihm sein würde an seinem neunten Geburtstag? Hat sie vorausgeplant? Er versucht sich den Klang ihrer Stimme vorzustellen, den Klang ihrer Worte. Hat sie so an Geburtstagen gesprochen? War er ihr Leitstern? Er berührt ihre Handschrift, die Buchstaben so fest durchgedrückt, dass er die Vertiefungen spüren kann.
Er nimmt die kleine Metalldose hoch und bemerkt ein kleines Aufziehwerk, gleich neben den Scharnieren des Deckels. Er klappt den Deckel hoch. Eine leise Melodie klimpert los – eine Spieluhr. Hastig schließt er den Deckel wieder in der Hoffnung, dass alle anderen zu sehr mit ihren eigenen Fundstücken beschäftigt sind, um etwas zu bemerken.
Unter der Spieluhr versteckt findet Partridge eine dünne Halskette mit Anhänger – einen goldenen Schwan mit einem hellblauen Stein als Auge. Er nimmt die Kette hoch, und der Schwan dreht sich. Wenn sie existiert hat – wäre es nicht möglich, dass sie immer noch lebt? Wieder hört er die Stimme seines Vaters. »Deine Mutter ist schon immer problematisch gewesen«, sagt sie. Ist schon immer gewesen.
Partridge weiß, dass er nach draußen muss, auf die andere Seite. Wenn sie noch lebt – wenn es auch nur die geringste Hoffnung gibt –, dann muss er sie finden, koste es, was es wolle.
Er blickt die Reihe hinauf und hinunter – niemand zu sehen. Er nimmt die Gegenstände nacheinander in die Hand und lässt sie in seine Tasche rutschen. Dann klappt er die Box zu und stellt sie wieder an ihren Platz. Das Geräusch von Metall auf Metall hallt durch die Reihe, gefolgt von einem lauten Klicken, als der Riegel einrastet.
PRESSIA
Versammlung
Der Raum ist klein und eng. Lediglich ein Dutzend Leute sind da. Alle stehen, und als Pressia die Leiter hinunterkommt, rücken sie zusammen und seufzen, verärgert, weil sie Platz in Anspruch nimmt. Vermutlich sind sie auch sauer, dass sie das Essen mit einem mehr teilen müssen. Der Raum riecht nach Essig. Pressia hat noch nie Sauerkraut gegessen, doch ihr Großvater hat es beschrieben, und sie fragt sich, ob es das ist, was man auftischen wird. Von ihrem Großvater weiß sie außerdem, dass es ein deutsches Essen ist.
Der Junge, der die Falltür geöffnet hat, geht zur Rückseite des Raums. Pressia muss sich um die Gruppe herumschieben, um ihn sehen zu können. Er ist breitschultrig und muskulös. Sein blaues Hemd ist
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