Memento - Die Überlebenden (German Edition)
als hätten sie sie längst auswendig gelernt und könnten sie anderen weitererzählen.
Pressia rezitiert in Gedanken die Botschaft: Wir wissen, dass ihr hier seid, Brüder und Schwestern. Eines Tages werden wir aus dem Kapitol treten, um uns in Frieden mit euch zu vereinen. Bis dahin jedoch beobachten wir euch aus der Ferne, voller Gnade.
Und sie denkt an das Kreuz darunter, das ihr Großvater Irisches Kreuz nannte. Es mag ja sein, dass es nicht das gütige Auge eines Gottes ist, wie so viele glauben, aber es ist mit Sicherheit auch nicht die Botschaft einer bösen Macht. Ihre Sünde besteht darin, überlebt zu haben. Sie kann es ihnen nicht verdenken. Sie hat sich schließlich der gleichen Sünde schuldig gemacht.
Allmählich dämmert ihr, dass die OSR von Bradwells Existenz wissen muss, wenn selbst ihr Gerüchte zu Ohren gekommen sind. Panik steigt in ihr auf. Es ist gefährlich für sie, überhaupt hier zu sein. Bradwell ist fast achtzehn, und obwohl er offiziell als tot gelistet ist, ist er mit Sicherheit eine ideale Zielscheibe für die OSR. Während er redet, werden ein paar Dinge klar: Er hasst die OSR, die in seinen Augen unfähig ist, geschwächt von der eigenen Gier und Bosheit, außerstande, das Kapitol zu entmachten oder einen echten Wechsel herbeizuführen. »Nichts als eine weitere korrupte Tyrannei«, sagt er. Insbesondere ist ihm zuwider, dass niemand etwas Genaues weiß. Die Namen der Führer der OSR sind unbekannt. Sie lassen ihre Schergen die Drecksarbeit auf der Straße erledigen.
Würde ihn irgendjemand so reden hören, er würde erschossen, vielleicht sogar in aller Öffentlichkeit. Sie alle würden als Feinde der OSR betrachtet und mit dem Tod bestraft werden. Pressia will weg, aber wie? Die Leiter zur Falltür ist zusammengeklappt. Sie müsste eine Szene machen. Sie müsste es erklären. Aber was wäre schlimmer? Was, wenn es eine Razzia gibt, und sie sitzt hier unten mit diesen Leuten in der Falle?
Gleichzeitig will sie unbedingt wissen, was in der Truhe versteckt ist. Der Junge namens Halpern ist offensichtlich genauso neugierig wie sie. Es muss also etwas Wertvolles sein. Und wo ist das Essen? Hauptsächlich möchte sie, dass Bradwell endlich aufhört zu reden. Er redet über das, worüber niemals jemand spricht – die Luftströmungen, die ganze Häuserfundamente freilegen, die Feuerzyklone, die Reptilienhaut der Sterbenden, Leichen, die zu Kohle geworden sind, den öligen schwarzen Regen, die Scheiterhaufen für die, die Tage später gestorben sind; die zuerst nur Nasenbluten hatten und dann von innen verwesten. Sie wünscht sich sehnlichst, dass er endlich den Mund hält. Hör auf! Jetzt! Sofort!
Er sieht sie immer wieder an, während er redet, kommt ihr näher und näher. Er zwinkert, tut, als wäre er hart. Er berichtet von der politischen Bewegung namens Rückkehr des Anstands , die von der nationalen militärischen Fraktion überwacht wurde, die Rote Welle der Gerechtigkeit hieß und in Wirklichkeit Teil der Verschwörung war, die zu dem Bombardement führte. Er erzählt von dem Regiment der Angst, den riesigen Gefängnissen, den Heimen für die Kranken, den Asylen für Widerständler, den sterblichen Überresten, die in alle Richtungen verstreut herumlagen, gleich hinter den Toren der Vorstädte. Während er über all das redet, treten ihm Tränen in die Augen. Er würde niemals weinen, das sieht sie ihm an, doch er ist kompliziert. An einem Punkt sagt er: »Es war krank, alles. Vollkommen krank.« Und dann zeigt er auf ein sarkastisches Grübchen in seiner Wange und sagt: »Du weißt, dass Gott dich liebt, weil du reich bist!«
War es wirklich so, damals? Pressias Vater war Buchhalter. Ihre Mutter war mit ihr nach Disney Land gefahren. Sie hatten in der Vorstadt gelebt. Sie hatten einen kleinen Garten. Pressias Großvater hat Bilder von alldem gemalt. Ihre Eltern waren keine gebildeten Leute mit gefährlichen Ideen gewesen. Auf welcher Seite also hatten sie gestanden? Sie weicht einen Schritt zurück in Richtung der Leiter.
»Wir müssen uns daran erinnern, was wir nicht wollen«, sagt Bradwell zu seinen Zuhörern. »Wir müssen unsere Geschichten weitergeben. Meine Eltern waren bereits tot, schon vor den Bomben. In ihren Betten erschossen. Mir haben sie erzählt, es wären Einbrecher gewesen, aber ich wusste es besser, schon damals.«
Und jetzt redet Bradwell, als wäre er mit ihr allein im Raum. Seine Augen sind unverwandt auf sie gerichtet, sein Blick bohrt sich in
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