Memento - Die Überlebenden (German Edition)
immer, Halpern. Das weißt du.«
Halpern blickt sich verlegen um und kratzt an einem Stück Schorf im Gesicht.
Jetzt sieht Pressia zum ersten Mal die Truhe. Sie steht an einer Wand. Sie fragt sich, ob darin das Essen aufbewahrt wird.
Pressia mustert die Mädchen in der Gruppe. Eines hat blanke Drähte im Hals. Ein anderes hat eine Hand, die mit einem Fahrradlenker verschmolzen ist. Das Metall ist abgesägt, und der Griff ragt aus ihrer Faust wie ein Knochen. Pressia ist überrascht, dass sie nicht versuchen, diese Dinge zu verbergen, durch einen Schal um den Hals oder eine Socke über der Hand, wie Pressia es macht. Doch die Mädchen sehen stolz aus, selbstbewusst, beinahe herablassend.
»Für die unter euch, die zum ersten Mal hier sind …«, fährt der Junge mit den Vögeln im Rücken mit einem Blick auf Pressia fort, »… Ich bin ein Toter.« Was bedeutet, dass sein Name auf einer der Listen mit den Opfern stand. Die OSR sucht nicht nach ihm. Was gut ist, alles in allem. »Meine Eltern waren Professoren und starben, bevor die Bomben fielen. Sie hatten ›gefährliche Ideen‹. Ich bin im Besitz der Überreste eines Buches, an dem sie gemeinsam arbeiteten, und aus diesem Buch habe ich einen großen Teil meiner Informationen. Nach dem Tod meiner Eltern wurde ich zu einem Onkel und einer Tante geschickt. Dort war ich, als die Bomben fielen. Onkel und Tante überlebten nicht. Ich war damals neun Jahre alt und habe mich seitdem allein durchgeschlagen. Mein Name ist Bradwell, und das ist Schattengeschichte.«
Bradwell. Jetzt erinnert sie sich wieder. Sie hat von ihm gehört. Er soll ein Verschwörungstheoretiker sein, der draußen in den Trümmerfeldern predigt. Sie hat gehört, dass er die Geschichte über die Explosionen und das Kapitol anzweifelt und ganz besonders diejenigen verspottet, die das Kapitol für eine Gottheit halten, einen gütigen, fernen Gott, den sie verehren. Obwohl sie nicht zu den Kapitol-Verehrern gehört, hat sie sofort Hass gegen ihn verspürt. Wozu Verschwörungstheorien? Es ist vorbei. Aus und vorbei, ein für alle Mal. Hier sind wir – warum darüber nachdenken?
Als er weiterredet und dabei mit den Händen in den Taschen auf und ab geht, steigt dieses Hassgefühl erneut in ihr auf. Er ist paranoid und großspurig. Er erzählt langatmig von den Funktionären des Kapitols und behauptet, Beweise zu haben, dass sie verantwortlich sind für die totale Zerstörung; dass sie den größten Teil der Weltbevölkerung ausgelöscht haben, während sie in ihrem Kuppelbau geschützt waren, und dass das Kapitol einzig zu diesem Zweck gebaut wurde – nicht als Prototyp zum Schutz vor einer Virusepidemie, einer Umweltkatastrophe oder dem Angriff einer anderen Nation. Sie wollten, dass nur die Elite im Kuppelbau überlebt, während sich die Erde von selbst regeneriert. Dann würden sie zurückkehren. Ein Neuanfang. »Habt ihr euch je gefragt, warum wir keinen ausgewachsenen nuklearen Winter hatten?«, fragt Bradwell. »Nun, die Bomben waren darauf ausgelegt, genau das zu vermeiden. Sie benutzten einen Cocktail – Neutronenwaffen aus niedrigem Orbit, genannt LoFERNS, und aus dem hohen Orbit mit erweiterter Strahlung, die HiFERNS, mit elektromagnetischen Pulsen, genannt EMP.« Er spricht über den Unterschied zwischen atomaren und nuklearen Bomben, die ebenfalls zum Einsatz kamen, und den elektromagnetischen Pulsen, die jegliche Kommunikation unterbinden sollten. »Und wie entstanden die Dusts? Die Bomben zerstörten die molekularen Strukturen. Die Cocktails enthielten als Streugut Nanotechnologie, die die Regeneration der Erde beschleunigen soll – Nanotechnologie, die die spontane Bildung von Molekülen unterstützt. Dies, zusammen mit der Selbstregeneration unserer DNS, die die Baupläne unserer Zellen enthält, verstärkte unsere Verschmelzungen. Nanotechnologie, die auf in den Trümmern gefangene oder auf verbranntem Land sitzende Menschen traf und ihnen bei der Regeneration half. Obwohl sie sich nicht ganz befreien konnten, erstarkten die menschlichen Zellen der Dusts und lernten zu überleben.«
Er erklärt eine Verschwörung nach der anderen, verbindet sie so schnell miteinander, dass Pressia ihm kaum folgen kann. Sie ist nicht einmal sicher, ob er will, dass sie seine Theorien versteht. Seine Ansprache ist nicht für die Neuankömmlinge gedacht. Dies hier ist eine Gruppe überzeugter Anhänger. Sie nicken immer wieder im Verlauf seines Vortrags, als wäre es eine Gutenachtgeschichte,
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