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Memento - Die Überlebenden (German Edition)

Memento - Die Überlebenden (German Edition)

Titel: Memento - Die Überlebenden (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julianna Baggott
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ihren. Es fühlt sich seltsam an, als wäre sie an die Erde gebunden. Er erzählt seine Geschichte. Sein Ich-erinnere-mich.
    Nachdem seine Eltern erschossen worden waren, wurde er zu seiner Tante und seinem Onkel gebracht, die in der Vorstadt lebten. Man hatte seinem Onkel drei Plätze im Kapitol versprochen, ihm einen sicheren Weg dorthin gezeigt, den er nehmen sollte, sobald der Alarm erklang. Es war ein geheimer Weg, der sich zwischen den Barrikaden hindurchwand. Er hatte sogar Eintrittskarten, für die er viel Geld bezahlt hatte. Sie beluden den Wagen mit Wasserflaschen und Bargeld.
    Es passierte an einem Sonntagnachmittag. Bradwell hatte sich weit von zu Hause entfernt. Er war viel durch die Gegend gestreift in jenen Tagen. Er erinnert sich nicht an viele Details – nur an den hellen Blitz, die Hitze, die durch seinen Körper jagte, als würde sein Blut in Flammen stehen. Der Schatten der Vögel, die sich hinter ihm aufschwangen … das ist also wirklich das, was sie vor zwei Jahren gesehen hat, als er auf dem Tisch ihres Großvaters lag. Das Rascheln unter seinem Hemd, es sind Flügel.
    Bradwells Körper war verbrannt, die Haut versengt, roh. Die Schnäbel der Vögel haben sich angefühlt wie Dolche.
    Irgendwie hat er es zurück zum Haus geschafft, inmitten schwelender Feuer, die Luft schwer von Asche, Menschen, die in den Trümmern weinten. Andere wanderten blutüberströmt umher, die Haut weggeschmolzen. Sein Onkel hatte am Wagen gearbeitet, um sicher zu sein, dass er in Schuss war für die spezielle Route zwischen den Barrikaden hindurch. Er hatte unter dem Wagen gelegen, als die Bomben hochgingen, war mit dem Motor verschmolzen. Der Motor saß in seiner Brust. Seine Tante war verbrannt, litt unter Schmerzen und hatte Angst vor Bradwells Körper, den Vögeln. Sie sagte trotzdem: »Geh nicht weg.« Der Geruch nach Tod, nach verbranntem Haar und verbrannter Haut war überall. Der Himmel war grau und schwer von Asche. »Die Sonne schien, aber es war so viel Staub in der Luft, dass es immer dämmrig war«, sagt Bradwell. Erinnert sich Pressia daran? Sie will. Nach Sonne auf Sonne auf Sonne herrschte Dämmerung auf Dämmerung, Tag um Tag.
    Bradwell blieb bei seiner Tante in der Garage, die zwar versengt und baufällig war, doch ansonsten merkwürdig unversehrt – die Wände gesäumt mit verkohlten Kisten, dem Plastik-Weihnachtsbaum, den Schaufeln und Werkzeugen. Sein Onkel war schon fast tot, trotzdem versuchte er seiner Frau zu erklären, wie sie ihn unter dem Wagen hervorholen sollte. Er sagte etwas von Bolzenschneider und einem Hebezug, den sie an der Decke befestigen konnten – doch wo sollte die Tante Hilfe holen? Jeder in der Nachbarschaft war entweder tot, lag im Sterben oder war verschüttet oder verschwunden. Sie versuchte ihren Mann zu füttern, doch er weigerte sich zu essen.
    Bradwell fand eine tote Katze auf der verbrannten Wiese, legte sie in eine Schachtel, versuchte sie wiederzubeleben – vergebens. Seine Tante war völlig erschöpft und heiser, wahrscheinlich inzwischen ein wenig durchgedreht. Sie war benommen und schwach und sah ihrem Mann beim Sterben zu, während sie sich notdürftig um die eigenen Verletzungen kümmerte.
    Bradwell unterbricht seine Erzählung für einen Moment, blickt zu Boden, dann sieht er Pressia wieder an. »Und dann eines Tages flehte er sie an. Flüsterte bettelnd, dass sie den Motor startete. Einfach startete.«
    Im Raum wird es still.
    Bradwell fährt fort. »Sie hielt die Schlüssel in der Hand und schrie mich an, ich solle aus der Garage verschwinden. Ich gehorchte.«
    Pressia fühlt sich benommen. Sie legt die Hand an die Betonwand, um das Gleichgewicht zu halten. Sie blickt zu Bradwell auf. Warum erzählt er diese Geschichte? Sie ist widerlich. Erinnerungen sollen Freude machen. Sie sind kleine Geschenke, schöne Geschichten von der Sorte, die Pressia sammelt, die sie braucht, an die sie glaubt. Warum so eine? Zu was ist sie nütze? Sie blickt sich um, sieht die anderen an. Sie scheinen nicht wütend oder aufgebracht wie sie selbst. Ihre Gesichter sind gelassen. Einige haben die Augen geschlossen, als versuchten sie, sich das Gehörte in Gedanken vorzustellen. Das ist das Letzte, was Pressia will, und trotzdem sieht sie alles ganz deutlich vor sich, die Vögel, die tote Katze, den Mann, der unter dem Wagen gefangen ist.
    »Sie drehte den Schlüssel um«, fährt Bradwell fort. »Ein paar Sekunden lang hörte ich den Motor stottern. Als sie nicht rauskam,

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