Memento - Die Überlebenden (German Edition)
ging ich rein. Ich sah das Blut und das wächserne blaue Gesicht meines Onkels, und meine Tante zusammengerollt in einer Ecke der Garage. Ich nahm die Wasserflaschen und steckte Bargeld in einen Beutel, den ich mir an den Bauch klebte. Dann ging ich zurück nach Hause, zu meinem Elternhaus, das bis auf das Fundament heruntergebrannt war. Ich fand die Truhe, die in einem geschützten Raum versteckt gewesen war. Ich schleifte die Truhe mit in die dunkle Welt und lernte zu überleben.«
Seine dunklen Augen huschen über die Menge. »Jeder von uns hat eine Geschichte«, sagt er. »Sie haben uns das angetan. Es gab keinen Angreifer von außen. Sie wollten eine Apokalypse. Sie wollten das Ende. Und sie ließen es geschehen. Alles war genau geplant – wer reinkam, wer nicht. Es gab eine Liste. Wir standen nicht drauf. Wir wurden zum Sterben zurückgelassen. Sie wollen uns vernichten, die Vergangenheit, und das dürfen wir nicht zulassen!«
Das ist alles. Er ist fertig. Niemand klatscht. Er dreht sich einfach um und löst das Schloss der Truhe.
Schweigend bilden sie eine Reihe, und einer nach dem anderen tritt ehrfürchtig vor und wirft einen Blick hinein. Einige nehmen Papiere heraus, manche farbig, andere schwarz-weiß. Pressia kann nicht erkennen, was es für Papiere sind. Sie will wissen, was in der Truhe ist, doch das Herz schlägt ihr bis zum Hals. Sie muss hier raus. Sie sieht Gorse mit anderen Leuten in einer Ecke reden. Sie freut sich, dass er lebt, aber sie will nicht wissen, was mit Fandra passiert ist. Sie muss hier raus. Sie geht zu der klapprigen Leiter und zieht daran. Die Leiter entfaltet sich von der Decke. Pressia steigt die ersten Stufen nach oben, dann ist Bradwell unten am Fuß. »Du bist nicht wegen der Versammlung hergekommen, stimmt’s?«
»Doch, natürlich.«
»Du hattest keine Ahnung, um was es geht.«
»Ich muss los«, sagt Pressia. »Es ist später, als ich dachte. Ich habe versprochen …«
»Wenn du von der Versammlung wusstest – was ist in der Truhe?«
»Papiere«, sagt sie. »Du weißt schon.«
Er zupft an dem ausgefransten Saum ihrer Hose. »Komm und wirf einen Blick hinein.«
Sie sieht nach oben zur Falltür.
»Die verriegelt sich automatisch, sobald sie ins Schloss fällt«, sagt Bradwell. »Du musst warten, bis Halpern sie wieder aufmacht, ob du willst oder nicht. Er hat den einzigen Schlüssel.« Er streckt die Hand aus, bietet ihr seine Hilfe an, doch sie ignoriert die Geste und steigt allein die Stufen hinunter.
»Ich hab nicht viel Zeit«, sagt sie.
»Das ist schon okay.«
Die Leute stehen nicht mehr Schlange vor der Truhe. Sie stehen in kleinen Gruppen herum, halten Papiere in den Händen und reden leise. Gorse ist irgendwo mitten unter ihnen. Er sieht Pressia an. Sie nickt ihm zu, und er nickt zurück. Sie muss mit ihm reden. Er steht neben der Truhe. Sie will sehen, was drin ist. Sie geht zu ihm hin.
»Hey, Pressia«, sagt er.
Bradwell ist dicht hinter ihr. »Ihr kennt euch?«, fragt er.
»Von früher«, sagt Gorse.
»Du bist verschwunden, und du bist noch am Leben«, sagt Pressia. Sie kann ihr Staunen nicht verbergen.
»Pressia, erzähl niemandem von mir, okay? Niemandem!«
»Versprochen«, sagt sie. »Was ist mit …«
Er schneidet ihr das Wort ab. »Nein«, sagt er, und sie begreift, dass Fandra nicht überlebt hat. Sie hat von Anfang an geglaubt, dass Fandra tot ist, seit dem Tag, an dem die beiden verschwunden sind, doch ihr war nicht klar, wie groß ihre Hoffnung geworden ist, seit sie Gorse gesehen hat. Ihre Hoffnung, dass Fandra vielleicht noch am Leben ist, dass sie sich wiedersehen würden.
»Es tut mir leid«, sagt sie.
Er schüttelt den Kopf und wechselt das Thema. »Die Truhe«, sagt er. »Na los, sieh rein.«
Sie tritt zur Truhe. Zu beiden Seiten von ihr sind Leute, Schulter an Schulter. Sie ist aufgewühlt. Sie späht hinein. Die Truhe ist voll mit Ordnern, ascheverschmierten Ordnern. Einer trägt die Aufschrift KARTEN. Ein weiterer MANUSKRIPT. Der oberste Ordner ist geöffnet, und darin sind Ausschnitte aus Zeitungen und Zeitschriften. Pressia greift nicht hinein. Sie kann sie nicht berühren, nicht jetzt gleich, im ersten Moment. Sie kniet nieder und hält sich am Rand der Truhe fest. Sie sieht Bilder, Fotos von Menschen, die so unglaublich glücklich darüber sind, Gewicht verloren zu haben, dass sie Maßbänder um ihre Taillen geschlungen haben. Fotos von Hunden mit Sonnenbrillen und Partyhütchen. Wagen mit riesigen roten Schildern
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