Memento - Die Überlebenden (German Edition)
auf dem Dach. Lachende Hummeln, Geld-zurück-Garantien, kleine Samtschachteln mit Schmuck darin. Die Bilder sind sehr abgegriffen. Einige haben Brandlöcher, schwarze Ränder. Andere sind grau und unter der Ascheschicht kaum noch zu erkennen. Trotzdem, alle sind wunderschön. So war es im Davor, denkt Pressia. Nicht all das, was Bradwell ihnen eben erzählt hat. Sondern das hier. Was diese Bilder zeigen. Das ist der Beweis. Sie sind real.
Sie greift in die Truhe und berührt ein Bild. Ein Bild von Menschen mit farbigen Brillen in einem Filmtheater. Sie starren auf die Leinwand, lachen und essen aus kleinen bunten Papptüten.
»Das nannte sich 3-D«, erklärt Bradwell. »Sie haben sich die Filme mit diesen Brillen angesehen, und die Welt sprang aus der flachen Leinwand, als wäre sie echt.« Er nimmt das Foto aus der Kiste und reicht es ihr.
Sie nimmt es, und ihre Hand fängt an zu zittern. »Ich erinnere mich nicht an diese ganzen Einzelheiten«, sagt sie. »Es ist faszinierend.« Sie sieht ihn an. »Warum erzählst du all das andere Zeug, wenn du diese Bilder hier hast. Ich meine, sieh sie dir doch an!«
»Weil das, was ich erzählt habe, die Wahrheit ist. Die Schattengeschichte. Diese Bilder … das ist nicht die Wahrheit.«
Pressia schüttelt den Kopf. »Du kannst erzählen, was du willst. Ich weiß, wie es war. Ich habe alles im Kopf. Es war mehr wie die Bilder hier. Ich bin mir ganz sicher.«
Bradwell lacht auf.
»Lach mich nicht aus!«
»Ich kenne deine Sorte«, sagt er.
»Was?«, fragt Pressia entrüstet. »Du weißt überhaupt nichts von mir!«
»Du gehörst zu denen, die am liebsten alles wieder so hätten, wie es war. Aber so geht das nicht. Du kannst die Vergangenheit nicht verklären. Wahrscheinlich gefällt dir sogar die Vorstellung vom Leben im Schutz des Kapitols. Süß und kuschlig und komfortabel.«
Es fühlt sich an, als beschimpfe er sie. »Ich verkläre keine Vergangenheit. Du bist doch hier der Geschichtslehrer.«
»Ich blicke nur zurück, damit wir nicht die gleichen Fehler noch mal machen.«
»Als bekämen wir jemals diesen Luxus!«, entgegnet sie. »Oder ist es das, was du mit deinen kleinen Lehrstunden planst? Willst du die OSR infiltrieren, das Kapitol stürzen?« Sie drückt ihm das Blatt auf die Brust und geht zu Halpern. »Mach die Tür auf«, verlangt sie.
Halpern starrt sie an. »Was? Ist sie abgeschlossen?«
Sie dreht sich zu Bradwell um. »Hältst du das etwa für lustig?«
»Ich wollte nicht, dass du gehst«, antwortet Bradwell. »Ist das so schlimm?«
Sie macht ein paar schnelle Schritte zur Leiter, Bradwell folgt ihr.
»Hier, nimm das«, sagt er und hält ihr ein klein zusammengefaltetes Blatt Papier hin.
»Was ist das?«
»Bist du schon sechzehn?«
»Noch nicht.«
»Da findest du mich«, sagt er. »Nimm es. Du könntest es brauchen.«
»Wozu? Für den Fall, dass ich noch ein paar Nachhilfestunden brauche?«, entgegnet sie. »Und wo ist überhaupt das Essen?«
»Halpern!«, ruft Bradwell. »Wo bleibt das Essen?«
»Vergiss es«, sagt Pressia. Sie zieht die Leiter herunter.
Als sie den Fuß auf die erste Stufe setzt, reicht er nach oben und schiebt ihr das zusammengefaltete Stück Papier in die Tasche. »Es kann nicht schaden.«
»Weißt du was? Ich kenne auch deine Sorte«, sagt sie.
»Was für eine Sorte?«
Sie weiß nicht, was sie erwidern soll. Sie ist noch nie jemandem wie ihm begegnet. Die Vögel in seinem Rücken scheinen ruhelos. Ihre Flügel flattern unablässig unter dem Stoff seines Hemds. Seine Augen sind grüblerisch, durchdringend. »Du bist ein schlauer Kerl«, sagt sie. »Das findest du schon selbst raus.«
Während sie die Leiter hochklettert, sagt er: »Du hast gerade was Nettes zu mir gesagt, ist dir das eigentlich klar? Das war ein Kompliment. Du schmeichelst mir, hab ich recht?«
Das macht sie nur noch wütender. »Ich hoffe, dass ich dich nie wiedersehe!«, zischt sie. »Ist das geschmeichelt genug für dich?« Sie klettert hoch genug, um der Falltür einen Stoß zu versetzen. Die Tür fliegt auf und kracht gegen das Holz. Alle im Raum unten halten inne und starren zu ihr nach oben.
Aus irgendeinem unerklärlichen Grund erwartet sie, einen Raum vorzufinden mit einem blumenbestickten Sofa, hellen Fenstern, windgeblähten Vorhängen. Darin eine Familie mit Gürteln aus Maßbändern beim Essen eines fetten Truthahns, ein grinsender Hund mit Sonnenbrille und draußen auf der Straße einen Wagen mit einer Reklametafel auf dem
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