Memento - Die Überlebenden (German Edition)
könnte die Augen schließen und so tun, als wäre sie eine Ascheflocke, die hoch hinauf in den Himmel geschwebt ist und nun auf dieses Mädchen herabblickt, das sich im Schrank versteckt hat. Sie versucht sich das vorzustellen, doch dann lenkt sie der abgehackte Husten ihres Großvaters ab, und sie kehrt in ihren eigenen Körper zurück, spürt das Holz des Schranks im Rücken, an den beengten Schultern, die Puppenkopffaust unter dem Kinn.
Es ist ihr Geburtstag. Es gibt kein Vertun.
Sie klettert aus dem Schrank.
Ihr Großvater sitzt bereits am Tisch. »Guten Morgen.«
Vor ihm liegen zwei Päckchen. Das eine ist ein einfaches Blatt Papier auf einem kleinen Hügel, obendrauf eine Blume. Das andere ist etwas Zusammengerolltes, eingewickelt in Stoff, zusammengebunden mit Schnüren, die zu einer Schleife geknotet sind.
Pressia geht an den Geschenken vorbei zu Freedles Käfig. Sie schiebt die Finger zwischen den Stäben hindurch. Die Zikade flattert mit ihren Metallflügeln, die gegen die Stäbe ticken. »Du hättest mir keine Geschenke holen sollen.«
»Aber natürlich hätte ich«, widerspricht ihr Großvater.
Sie will keinen Geburtstag und keine Geschenke. »Ich brauche nichts«, sagt sie.
»Pressia«, flüstert er. »Wir sollten feiern, was wir feiern können.«
»Nicht diesen«, sagt sie. »Nicht diesen Geburtstag.«
»Das Geschenk ist von mir«, sagt er und deutet auf den Hügel mit der Blume. »Das andere habe ich heute Morgen neben der Tür gefunden.«
»Neben der Tür?« Wer wissen will, wann sie Geburtstag hat, muss nur auf die Liste sehen, die überall in der Stadt angeschlagen ist. Trotzdem. Pressia hat nicht viele Freunde. Wenn Überlebende sechzehn werden, zerbrechen alle Freundschaften und Verbindungen. Jeder weiß, dass er bald alleine klarkommen muss. In den Wochen, bevor Gorse und Fandra verschwunden sind, war Fandra Pressia gegenüber abweisend. Sie brach die Verbindung ab, bevor sie Abschied nehmen musste. Pressia hat es damals nicht verstanden, jetzt schon.
Ihr Großvater wendet das andere Geschenk, und auf dem Stoff kommt Schrift zum Vorschein.
Pressia geht zum Tisch und nimmt ihm gegenüber Platz. Sie liest die Zeilen. Für dich, Pressia. Bradwell.
»Bradwell?«, fragt ihr Großvater. »Ich kenne ihn. Ich habe ihn genäht. Woher weiß er, wer du bist?«
»Weiß er nicht«, sagt sie und fragt sich: Warum schenkt er mir was? Er denkt, ich bin nur eine von der Sorte – von denen, die alles wieder haben wollen wie früher, im Davor, die sogar das Kapitol mögen und alles, wofür es steht. Abgesehen davon, was ist so falsch daran? Ist es nicht das, was sich jeder normale Mensch wünschen würde? Sie spürt, wie sich eine eigenartige, wütende Hitze in ihr ausbreitet. Sie stellt sich Bradwells Gesicht vor, die beiden Narben, die Verbrennung, die Art und Weise, wie seine Augen feucht werden und er blinzelt, um im nächsten Moment wieder hart auszusehen.
Sie ignoriert sein Geschenk und zieht stattdessen das ihres Großvaters zu sich herüber.
»Ich wünschte, es wäre etwas Schönes«, seufzt ihr Großvater. »Ich wünschte, ich könnte dir etwas Schönes schenken, du hättest es verdient.«
»Keine Sorge, es ist okay«, sagt sie.
»Dann los, mach es auf.«
Sie beugt sich vor, zupft am Papier und hebt es dann schwungvoll zur Seite. Sie liebt Geschenke, auch wenn sie es nicht gerne zugibt.
Es ist ein Paar Schuhe, dickes Leder über glattem Holz.
»Clogs«, sagt ihr Großvater. »Die Holländer haben sie erfunden, genau wie die Windmühlen.«
»Ich dachte immer, Mühlen wären für Korn oder für Papier«, sagt sie. »Aber für Wind?«
»Die Mühlen wurden vom Wind angetrieben. Sie sahen aus wie Leuchttürme«, erklärt er. Was Leuchttürme sind, hat er ihr schon mal erzählt. Er ist am Meer aufgewachsen. »Anstatt eines Lichts oben an der Spitze hatten Windmühlen riesige Propeller. Sie haben sich im Wind gedreht und die Mühlen angetrieben. Probier sie an.«
Sie stellt die Clogs auf den Boden und schiebt die Füße in den Hohlraum zwischen Leder und Holz. Das Leder ist noch steif, und als sie sich hinstellt, bemerkt sie, dass die dicke Holzsohle sie größer macht. Sie will nicht größer sein. Sie will klein sein, klein und jung. Ihr Großvater ersetzt ihre alten Schuhe mit neuen, die aussehen, als würden sie niemals kaputtgehen.
Glaubt er, dass sie bald kommen, um Pressia zu holen? Glaubt er, dass sie in diesen Schuhen weglaufen wird? Wohin? In die Trümmerfelder vielleicht?
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